Ankara - Auch nachdem die türkische Regierung mit Vertretern der Protestbewegung gesprochen hat, hat sich die Lage in der Türkei am Donnerstag nicht entspannt. Die Polizei geht weiter mit Gewalt gegen Demonstranten vor.

Am Mittwoch seien rund um den Kizilay-Platz in der Hauptstadt Ankara Wasserwerfer und Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt worden, berichteten Aktivisten und türkische Medien. Zuvor hatte die Regierung einen weniger harten Kurs angekündigt. An der Demonstration in Ankara hatten sich vor allem Gewerkschaften beteiligt. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolou wurden neun Menschen festgenommen. In Istanbul demonstrierten erneut tausende Menschen.

Ausländer verhaftet

Bei den Protesten hat die Polizei nach Angaben von Innenminister Muammer Güler sieben Ausländer festgenommen. Darunter sei ein Deutscher, zitierte die Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi den Minister am Donnerstag in Ankara. Die weiteren seien ein Franzose, ein Grieche, zwei aus den Vereinigten Staaten und ein Bürger des Iran.

Pamuk: Regierung unterdrückerisch und autoritär

Die Zusammenstöße forderten am Mittwoch ein drittes Todesopfer. Ein Aktivist sei seinen Verletzungen erlegen, die er in Ankara erlitten hatte, berichtete der türkische Ärzteverband TTB nach Angaben der Zeitung "Hürriyet". Die Zahl der Verletzten sei inzwischen weit über 4.000 gestiegen, teilte der Ärzteverband mit. Davon seien 43 in einem kritischen Zustand.

Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk äußerte unterdessen seine Unterstützung für die Proteste. "Die Erdogan-Regierung ist unterdrückerisch und autoritär", meinte der Schriftsteller in einer in mehreren Zeitungen veröffentlichten Erklärung.

Erdogan bleibt stur

Regierungschef Recep Tayyip Erdogan will hingegen an dem umstrittenen Bauprojekt in Istanbul festhalten. Er werde die Umgestaltung des Gezi-Parks in der Metropole vorantreiben, sagte Erdogan am Donnerstag in der tunesischen Hauptstadt Tunis laut einer arabischen Übersetzung seiner Äußerungen. Er rückte dabei einen Teil der Protestteilnehmer in die Nähe des "Terrorismus".

Neues Vorgehen gegen Online-Aktivisten

Erstmals seit Beginn der Proteste ging die Polizei auch mit Festnahmen gegen im Internet aktive Regierungsgegner vor. In der westtürkischen Stadt Izmir seien mindestens 29 Twitter-Nutzer in Gewahrsam genommen worden. Ihnen würden Anstachelung zu einem Aufstand, Propaganda und Desinformation vorgeworfen, berichteten türkische Medien am Mittwoch. Hacker der Internet-Gruppe Anonymous legten unterdessen die Website von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lahm. Die Seite war bis zum Mittwochnachmittag vom Netz. Türkischen Berichten zufolge sollen sich die Hacker auch Zugang zu E-Mail-Konten verschafft haben.

Eine der führenden Protestinitiativen, die Taksim-Plattform, kündigte nach einem Treffen mit Vizeregierungschef Bülent Arinc in Ankara an, ihren "Kampf" fortsetzen zu wollen, bis die Regierung auf ihre Forderungen eingehe. Die Aktivisten verlangen unter anderem den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul, der einem Einkaufszentrum weichen soll. Ferner müsse der Einsatz von Pfefferspray und Tränengas verboten werden. Alle für die Gewalt gegen Demonstranten verantwortlichen Funktionäre sollten entlassen werden, hieß es.

Alkoholverbot im Gezi-Park

An dem Einsatz im Gezi-Park hatten sich die Proteste entzündet. Inzwischen richten sich die Demonstrationen vor allem gegen den als immer autoritärer empfundenen Kurs von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der Extremisten für die Demonstrationen verantwortlich gemacht hatte.

Im Park ist am Mittwoch das islamische Fest "Lailat al-Miraj" (Türkisch: Mirac Kandili) mit Koran-Lesungen begangen worden. Dabei wird der "Nachtreise" des Propheten Mohammed nach Jerusalem und in den Himmel gedacht. Unter den Teilnehmern wurden die für dieses Fest gebackenen "Kandil simidi"-Brezeln verteilt. Zugleich wurde der Gezi-Park für die Nacht zur alkoholfreien Zone erklärt.

Wie "Hürriyet Daily News" am Mittwoch berichtete, begründeten die sozialen Netzwerke ihre Kampagne mit dem Argument, damit solle die Solidarität mit allen Sektoren der Gesellschaft vertieft werden. Sollte der islamische Festtag ignoriert und Alkohol konsumiert werden, könnte das von Anhängern der religiös ausgerichteten AKP genutzt werden, um die Protestbewegung zu dämonisieren, hieß es.

Erstmals seit Beginn der landesweiten Protestbewegung griffen am Mittwoch Erdogan-Anhänger Demonstranten in der Schwarzmeerstadt Rize an, aus denen die Familie des islamisch-frommen Regierungschefs stammt. Die Polizei und der Bürgermeister konnten eine Eskalation verhindern. (APA/red, derStandard.at, 6.6.2013)