Brüssel/Wien - Zwanzig Jahre lang hatte Lettland mit dem Lats eine eigene Währung. Im März 1993 eingeführt, galt dieser LVL - so das offizielle Kürzel - als Symbol der Unabhängigkeit: 1990 hatte sich die (geografisch und größenmäßig) mittlere der drei baltischen Republiken von der Sowjetunion für unabhängig erklärt. Den Rubel wurden die heute rund zwei Millionen Einwohner aber erst nach deren Zusammenbruch 1991 los.
Nun wird Lettland, das 2004 der EU beigetreten war, am 1. Jänner 2014 den Euro einführen, den derzeit siebzehn von 27 EU-Staaten als gemeinsame Währung haben. Die EU-Kommission wird heute, Mittwoch, einen entsprechenden Antrag der Regierung in Riga um Aufnahme genehmigen und dem Land "Euroreife" bestätigen.
Lettland erfüllt laut dem zuständigen Berichterstatter im EU- Parlamentsausschuss, Burkhard Balz, die in EU-Vertrag von Maastricht wie Stabilitätspakt festgelegten Kriterien spielend. Das Budgetdefizit lag 2012 mit 1,2 Prozent der Wirtschaftskraft (BIP) weit unter dem Limit von drei Prozent (das die Mehrheit der Eurostaaten derzeit nicht halten). Die staatliche Gesamtschuld soll 43,2 Prozent betragen (Österreich: 75 Prozent des BIPs). Und das Land war mit 1,6 Prozent Inflationsrate in den vergangenen zwölf Monaten beachtlich preisstabil.
Historischer Prozess
Das Wirtschaftswachstum lag zuletzt bei fünf Prozent. Auch das Währungsumfeld stimmt: Estland, der Nachbar im Norden, hat den Euro bereits seit Anfang 2011. Litauen, mit drei Millionen Einwohnern die größte Baltenrepublik im Süden, könnte schon 2015 in den Euro folgen. Auch Polen überlegt einen solchen Schritt, der der boomenden Wirtschaftsregion am Baltischen Meer Auftrieb gäbe.
Alles paletti also für Lettland, könnte man angesichts der wirtschaftlichen Basisdaten meinen, noch dazu mitten in der existenziellen Krise, in der einige südliche EU-Länder stecken, die viele am Sinn der Währungsunion zweifeln lässt. Experten in Brüssel betonen vor allem das wichtige psychologisch-politische Signal, das von einem neuen Euromitglied in dieser Lage ausgeht.
Da jedes Euroland gleichrangig mit Sitz und Stimme in den Gremien sitzt, werde die im Norden vertretene Stabilitätskultur gestärkt. Aber es gibt auch eine Kehrseite des kleinen baltischen Tigerstaates. Das Land war zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 zahlungsunfähig. Nur eine Kredithilfe von 7,5 Milliarden Euro durch internationale Geldgeber konnte den Zusammenbruch verhindern.
Was folgte, war ein beispielloses Kürzungs- und Sanierungsprogramm unter Finanzminister Jürgen Ligi in einer rechtsliberalen Koalition: Sozialleistungen wurden radikal gekürzt, ebenso die Beamtengehälter, staatliche Subventionen und Investitionen zurückgefahren, im Gegenzug Steuern erhöht. Die Wirtschaft schrumpfte in kurzer Zeit um zwanzig Prozent. Aber Ligi blieb währungspolitisch auf Kurs, wertete den Lats nicht ab - was die zentrale Voraussetzung für Euroreife ist. Die Folge war extreme Arbeitslosigkeit: Zigtausend Letten, insbesondere die gut ausgebildeten jungen, wanderten aus. Aber die Investitionen kamen zurück, sodass Lettland nach einer "internen Abwertung" neben Rumänien und Bulgarien heute wieder die höchsten Wachstumsraten aufweist, während die Eurozone eine leichte Rezession durchlebt.
Quantitativ wirkt sich der Beitritt auf die Eurozone praktisch nicht aus. Lettland ist mit einem BIP von knapp 14.800 Dollar pro Kopf (n. Kaufkraft) eines der ärmsten Länder der Union, die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit beträgt gerade mal ein Zehntel der österreichischen. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 5.6.2013)