"Wir warten hier wie auf der Schlachtbank." Die adrett gekleidete Frau um die 40 sitzt neben mir auf dem Boden in der Häuserschlucht hinter dem Frankfurter Schauspielhaus. Sie könnte einfach die Personalien herzeigen und gehen, aber sie bleibt im Polizeikessel, zusammen mit hunderten anderen DemonstrantInnen, Linksradikalen und JournalistInnen, und beharrt auf ihrem Recht. Denn um nichts weniger als das geht es: um das Recht auf Freiheit und Demonstration der Meinung, das Prinzip der Öffentlichkeit und einen Polizeieinsatz, der all das mit Füßen tritt.

Bei der Demonstration

Wie alle hier im Kessel ist sie ruhig, gefasst und fest überzeugt, nicht einfach so den Platz zu räumen. Und das trotz der Enge, der wenigen Meter Freiraum, die zwischen Häuserwand, Lautsprecherwagen und den dichten Menschenketten links und rechts davon geblieben sind. Trotz der Stunden, die wir hier schon ausharren, trotz der langen Zeit ohne Wasser und Toiletten, die verstreichen muss, bis MitarbeiterInnen des Schauspielhauses Klopapier herabwerfen und mit Eimern Wasserflaschen herunterreichen, lange bevor die Polizei Dixi-Klos bringen lässt. Trotz der Schreie, die immer wieder von links aufschrecken lassen, wenn sich Polizisten mit Faustschlägen und Schlagstöcken in die Menschenketten vorarbeiten und Demonstrierende über den Boden wegschleifen.

Vorgehen der Polizei

Ironie oder Omen, ich las Agamben auf der Fahrt in die Finanzmetropole: "Der Ausnahmezustand stellt sich immer mehr als das vorherrschende Paradigma des Regierens in der zeitgenössischen Politik dar", schreibt der Philosoph. Das Recht wird dabei im Namen der Sicherheit suspendiert und faktische Herrschaft ausgeübt: "Auf allen Gebieten suchen die herrschenden Klassen nicht so sehr den Notstand zu vermeiden, sondern ihn zu fördern, um ihn dann für ihre eigenen Zwecke zu nutzen." Die praktische Lektion dessen hat dann die Frankfurter Polizei geliefert: Trotz gerichtlicher Genehmigung hat sie die Demonstration de facto unterbunden, einem Teil davon das Recht auf Meinungs- und Bewegungsfreiheit entzogen und die Öffentlichkeit der Veranstaltung mit Personenkontrollen außer Kraft gesetzt.

Viele hier im Kessel schütteln den Kopf über die Absurdität der Situation, sind empört über die surrealen Aufforderungen aus den Polizeilautsprechern, "sich freiwillig zur Personalienkontrolle zu begeben", während Exekutivbeamte unter Sprechchören und Hubschrauberlärm einen nach dem anderen herausreißen und abführen. Selbst diejenigen, die mehr oder weniger zufällig mit den organisierten linken Gruppen in den Polizeikessel geraten sind, sind fassungslos über das brutale Vorgehen der Polizeikräfte.

Polizeigewalt

Was als laute Demonstration der Nichtzustimmung zur Krisenpolitik der EU begonnen hatte, endet schon nach wenigen Metern in Polizeigewalt: Kurz bevor die Demospitze die EZB passiert hätte und die letzten der tausenden TeilnehmerInnen noch am Ausgangspunkt am Basler Platz stehen, schnappt die Falle zu. Vor und hinter dem antikapitalistischen Block schieben sich Polizeiketten in den Demonstrationszug.

Was da noch nicht klar ist: Hier und heute, hinterm Schauspielhaus, sind wir selbst nur StatistInnen in einem entwürdigenden Schauspiel von Polizei und Politik. Der polizeilichen Aufforderung, "die Vermummung abzulegen", kommen so gut wie alle nach. Wenig später aber treibt die Polizei mit massivem Pfeffergas- und Schlagstock-Einsatz einen Keil zwischen den ersten Block und den Rest der Demonstration und erklärt, die Personalien der rund tausend Eingeschlossenen einzeln kontrollieren zu wollen, ehe die Demo weiterziehen kann - ein Unterfangen, das selbst bei willfähriger Kooperation Stunden dauert.

Autoritäre Krisenpolitik

Spätestens hier ist jedem klar, dass es hier um mehr geht; dass heute Grenzen ausgelotet werden; dass das Schlagwort von der "autoritären Krisenpolitik" vielleicht näher ist, als einem lieb sein könnte; und dass die wenigen Meter Freiraum, die die tausend Demonstrierenden mit ihren Stimmen und Körpern geschützt haben, die Freiheit aller waren. "Denkt darüber nach, was heute für eine Schweinerei passiert ist", sage ich zu den beiden Polizisten, die kaum älter sind als ich selbst, nachdem sie mich weggebracht haben. Eines ist jedenfalls sicher: Was aus dem Kessel von Frankfurt abgeführt wurde, war ein Stück Demokratie. (Andreas Fink, Leserkommentar, derStandard.at, 4.6.2013)