"Man braucht wohl keine verschiedenen Geschlechter für Wörter und kommt vielleicht ganz ohne Artikel aus."

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daStandard.at hat mit dem ehemaligen Lehrer und Erfolgsautor Philipp Möller über Kanak-Sprak, Hartz IV, Ayse und Kevin gesprochen.

daStandard.at: Eine österreichische Version Ihres Buches würde womöglich "Gemma Park?" heißen. Haben Sie auch einen Lieblingssatz in dem rudimentären Deutsch Ihrer Schüler, das Kanak-Sprak genannt wird?

Möller: Ja, und das wäre wahrscheinlich: Smiregal. Das heißt so viel wie "Es ist mir egal!", besteht aber letztlich aus einem Wort, Smiregal. Das haben die Kids eigentlich immer gesagt, wenn ich sie darauf hingewiesen habe, welche Konsequenzen ihr Handeln haben könnte. Dieser zu einem Wort zusammengeschrumpfte Satz hat sich an unserer Schule wie ein Virus verbreitet, woran ich nicht ganz unbeteiligt war. Ich fand den Satz einfach so cool, dass ich das auch immer wieder verwendet habe. Das hat meinen Schülern eigentlich ganz gut gefallen, wenn ich mich ein wenig in ihre Sprache hineingefühlt habe.

daStandard.at: Das heißt, man muss als Lehrer zuerst einmal Kanak-Sprak lernen?

Möller: Es wäre nicht schlecht, wenn man ein paar Vokabeln beherrscht. Daher schiebe ich meinen Lesungen auch häufig ein Glossar voran, damit die Zuhörer und Zuhörerinnen überhaupt wissen, was die Kids meinen, wenn sie beispielsweise "Vallah" und "Abi" sagen.

daStandard.at: Vielleicht als nächstes Projekt gleich das Wörterbuch: Schule - Deutsch, Deutsch - Schule?

Möller: Ja, vielleicht. Wobei ich das nicht mag, wenn man da gleich mit dem moralinsauren Zeigefinger kommt. Unsere Sprache verändert sich eben. Vielleicht gibt es sogar Redundanzen in der deutschen Sprache. Man braucht nicht zwangsläufig unterschiedliche Geschlechter für Wörter und kommt vielleicht ohne Artikel aus. Ich finde es witzig, sich so zu unterhalten, und erwische mich auch mal dabei, "Komm, lass uns ma' Schwimmbad gehen!" zu sagen. Klingt vielleicht nicht so toll, aber irgendwie geht's schneller.

daStandard.at: Muss man ein gutes Buch so anlegen wie guten Unterricht? So, dass der Leser oder die Schülerin unterhalten ist und nicht merkt, nebenbei auch etwas zu lernen?

Möller: Ja. Wenn man den Lerngegenstand in der Assoziationsmaschine Hirn mit einem guten Gefühl zu verknüpfen weiß, dann drücken die Kinder vielleicht nicht sofort nach dem Unterricht den Reset-Button. Wenn die Kids morgens aufstehen und am Stundenplan sehen "Englisch, Möller" und damit etwas Positives assoziieren - erst dann werde ich es schaffen, guten Unterricht zu veranstalten und Lernerfolge zu erzielen.

Vielleicht ist das als Autor mit dem Leser auch ein wenig so. Als ich den Vertrag unterschrieben hatte, dachte ich mir, der richtige Titel für das Buch wäre "Die Hartz-IV-Fabrik". Und dann sagte das Lektorat, sie wollten kein Katastrophenbuch, sondern ein Buch, mit dem sich die Leser identifizieren können, das sie mitreißt und unterhält. Und das geht nicht durch das Schildern einer Katastrophe nach der anderen. Von hinten durch die Brust ins Auge sollte die Erkenntnis kommen.

daStandard.at: Woher kommt die Konjunktur solcher Bücher über den Schulalltag? Nehmen wir Frau Freitag, Andreas Salcher, Richard David Precht ...

Möller: Mangelnde Qualität von Bildung ist ein Thema, seitdem es Bildung gibt. Die ersten Bücher, die da einen Finger in die Wunde gelegt haben, waren wohl jene von Frau Freitag, die jedoch nur aus Ansammlungen von Geschichten bestehen. Die kann man dann lesen und sich über Ayse und Kevin lustig machen, aber mehr passiert da eigentlich nicht. Deshalb habe ich versucht, mein Buch auch mit sozialkritischen Fragen anzureichern.

Ich denke, wir sind an einem vorläufigen Tiefpunkt angelangt, was Bildungsqualität angeht. Ich denke, dass ein Großteil der Bevölkerung - ob privilegiert oder nicht - spürt, dass eine immer größere soziale Lücke klafft. Und genau deshalb stößt vielleicht gerade die humoristische Auseinandersetzung mit der fortlaufenden Bildungskatastrophe auf hohe Resonanz. Diese Wallraff'sche Herangehensweise - aus dem Innenleben eines Berufsstandes, aus dem Nähkästchen zu sprechen -, das scheint zu gefallen. Es könnte auch eine gewisse Art des sozialen Voyeurismus sein.

daStandard.at: Diesen kann man auch in ihrem Buch finden und sich prächtig über Chantal, Ayse und Kevin amüsieren. Machen Sie als Autor Geld auf dem Rücken dieser Kinder?

Möller: Die Gefahr droht, wenn man es unreflektiert tut. Ich hätte das Buch auch deutlich kürzer schreiben können oder stärker aufs Lustigmachen fokussieren. Aber das Schöne ist ja: Ich habe mich in meiner Zeit als Lehrer über sie lustig gemacht, mit ihnen zusammen. Und sie konnten sich auch über mich lustig machen. Es ist wichtig zu vermitteln, dass es klug sein kann, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Ich habe großen Wert darauf gelegt, in reflektiven Passagen darauf hinzuweisen, dass wir Menschen uns nicht ausgesucht haben, wer wir sind oder in welches Milieu wir geboren werden. Das ist ein wenig zum Alleinstellungsmerkmal meines Buches geworden - es ist nicht nur eine platte Ansammlung tragikomischer Geschichten, sondern es transportiert meinen Geist für die Schwächeren in der Gesellschaft.

daStandard.at: Wie viel trägt Migration zum Katastrophen-Kaleidoskop Schule bei? Sind Migranten Problemherde(n), oder geht es um soziale und ökonomische Fragen?

daStandard.at: Sie beschreiben in ihrem Buch, welche Auswirkungen Armut und Prekariat auf die Schule haben - Kinder ohne elterliche Unterstützung, ohne Rückhalt, Kinder die misshandelt werden und denen es an basalen Dingen wie Kleidung und Schuljause fehlt. Welche Rolle spielt Hartz IV dabei?

Möller: Hartz IV ist ein Stigma. Es erlaubt der Mehrheitsgesellschaft, festzusetzen, wie viel ein Mensch täglich zum Leben braucht - eine perverse Herangehensweise. Ich setze mich für einen Mindestlohn ein, weil ich sehe, wie sich das unter den Kids herumspricht, wenn jemand Hartz-IV-Eltern hat. Das ist noch schlimmer als schwul sein, möchte ich mal sagen - für viele Kinder ist der Umgang mit Homosexualität ja noch ein großes Problem. Diese Kids nehmen jedenfalls die Hartz-IV-Identität der Eltern dermaßen an, dass sie, wenn man sie fragt, was sie später mal werden wollen, sagen: "Isch geh auch Hartz IV!" Sie kommen aus ganzen Generationen von "Sozialhilfe-Adel", wo vielleicht schon die Großeltern im Jogginganzug über die Straßen gehen und gingen und stolz zeigen, dass sie Sozialhilfeempfänger sind. Klar - arbeitend würden sie ja auch am absoluten Existenzminimum leben.

Diese Zustände sind nicht tragbar, besonders nicht gepaart mit der schlechten Durchlässigkeit der Gesellschaft und einem Bildungssystem, das Vererbung von Bildungsstatus zementiert. Ein solches Label für soziale Randständigkeit wie Hartz-IV können wir uns meines Erachtens nicht erlauben, wenn wir nicht wollen, dass so viele Menschen am Rande der Existenz herumkrüppeln. Und dann zeigen wir noch mit dem Finger auf Sie! In der Schule ist gut zu spüren, was solche Ausgrenzung mit den Kids macht und es ist kein Wunder, dass diese die schlechtesten Leistungen erbringen und die niedrigsten Abschlüsse haben.

daStandard.at: Was kann man an der Lehrerbildung verbessern, damit das Schulsystem besser auf diese Entwicklungen vorbereitet ist und entgegenwirken kann?

Möller: Es gibt viel zu viele Lehrer, die aufgrund verschiedener Persönlichkeitsstrukturen ungeeignet sind für den Beruf. Im Bezug auf einen der wichtigsten Berufe in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, dem Lehrerdasein, besteht kein sinnvolles Auswahlverfahren. Ich würde damit anfangen, einen Eignungstest für angehende Lehramtsstudenten zu entwickeln. Man muss herausfinden, wer die Coping-Strategien für den hohen emotionalen Stress entwickeln kann, der beim Lehrberuf in allen Milieus entsteht. Als Lehrer sollte man dazu in der Lage sein, allen Kindern ein emotionales zu Hause in der Schule geben zu können und ihr Leben ein Stück weit abzufedern. Ganz zu schweigen von stimmlicher und körperlicher Präsenz sowie Theater- und Performancekünsten.

daStandard.at: Aber ein Eignungstest am Anfang des Studiums garantiert nicht, dass man eine gute Lehrerin ist, wenn man viele Jahre später fertigstudiert hat - oder danach, mit fünf, zehn oder fünfzehn Jahren praktischer Erfahrung.

Möller: Ich würde an der Stelle auf jeden Fall sehr grobmaschig verfahren. Bewerber sollten vielleicht schon vor dem Studium in den Unterricht mitgenommen werden, um selbst merken zu können, ob das für sie überhaupt das richtige Feld ist. Bevor viele kostbare Jahre des Lebens an ein Studium verbrezelt werden, muss es eine Chance geben, zu sehen, was einen erwartet. Daher wäre auch eine Selbstevaluation denkbar. Aber besser irgendein Auswahlverfahren als gar keines.

daStandard.at: Was würden Sie jungen Menschen raten, die Lehrer werden wollen?

Möller: Geht oft in Schulen, nehmt so viele Hospitationsmöglichkeiten wahr wie möglich. Wählt eure Universität genau und überprüft, wie hoch die praktischen Anteile sind und findet heraus, wie früh ihr die Möglichkeit bekommt, zu unterrichten. Ich würde sie außerdem dazu beglückwünschen. Das Gefühl, jeden Tag einen Ort zu besuchen, wo hunderte Menschen unterwegs sind, die einen kennen, Verantwortung zu übernehmen, manchmal der einzige Ansprechpartner zu sein - das sind alles sehr dankbare Aufgaben. Ich habe mich mit den Kids natürlich auch blendend amüsiert. Es kann echt ein sehr geiler Beruf sein. (Olja Alvir, daStandard.at, 4.6.2013)