Der türkische Bürger funktioniert nicht mehr, wie er soll. Fromm, arbeitsam und obrigkeitshörig will ihn die regierende konservativ-muslimische Partei und der so mächtige Premier Tayyip Erdogan. Mehr als zehn Jahre ging das gut - im Kielwasser eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs. Doch jetzt steht auf einem der Transparente, das an Istanbuls Hauptplatz hängt wie eine düstere Prophezeiung für die Regierung: "Taksim ist Tahrir". Der türkische Frühling ist angebrochen.

Für den brutalen Einsatz ihrer Polizei gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz hat die türkische Regierung in den vergangenen Tagen auch viel Kritik aus der EU und sogar Mahnungen aus Washington einstecken müssen. Den Regierungen in Griechenland, Frankreich, Italien oder Deutschland mit ihren prügelnden Polizisten bleibt so etwas im Allgemeinen erspart. Bei den Massenprotesten in der Türkei geht es jedoch um mehr. Der EU-Beitrittskandidat und strategische Partner des Westens für den Nahen Osten sieht seine Demokratie auf den Prüfstand gestellt.

Selbstsicher haben Erdogan und seine Parteimänner die Türkei als politisches Modell für die arabische Welt präsentiert und als wirtschaftlichen Kraftprotz gegenüber einer kränkelnden, an sich zweifelnden Eurozone. Jetzt sind sie von ihren eigenen Bürgern überrumpelt worden. Die Türken wollen sich nicht länger als entmündigte Bürger fühlen. Und die Verdreifachung des BIP seit dem Antritt der Erdogan-Regierung ist ein Erfolg mit großen Makeln: hohe Jugendarbeitslosigkeit, Mangel an qualifizierten Jobs, schlechte Schulbildung, rudimentäres Arbeitsrecht.

Doch es ist vor allem der besondere Zeitpunkt, der den so rasch anwachsenden Protestbewegungen in Istanbul und anderen türkischen Städten verstörende Parallelen beschert: "Taksim ist Tahrir". Tayyip Erdogan scheint bisweilen so entrückt wie die arabischen Autokraten, deren Rücktritt er offen forderte, angefangen bei dem ägyptischen Staatschef Hosni Mubarak 2011. Auch Zehntausende von Protestierenden sieht er als "marginale" Erscheinung.

Ganz ähnlich wie in Kairo geben die etablierten türkischen Fernsehsender bisher nur manipulierte Berichte über die Proteste ab. Wer in Gaziantep oder Mersin lebt - Millionenstädten im Süden - sieht 30 Sekunden lange Ausschnitte von Protesten.

Und dann das Gas: Die Demonstranten auf dem Taksim-Platz ließ Erdogans Regierung bis in die Foyers der umliegenden Hotels hinein mit enormen Mengen von Tränengas und chemischen Lösungen bekämpfen, während seine Regierung besonders lautstark den mutmaßlichen Einsatz von Kampfgas in Syrien anprangert und die Intervention des Westens fordert.

Es ist der Kontext des Arabischen Frühlings, der das Management der türkischen Regierung in ihrer bisher größten Krise so delikat macht. Eine gewaltsame Niederschlagung der Protestbewegung in der Türkei wäre verheerend - auch für die politische Position des Westens im Syrienkrieg, gegenüber dem Iran und den Demokratiebewegungen in der arabischen Welt. Das Vehikel Türkei käme der EU und den USA abhanden.

Wie wird es nun weitergehen in Istanbul? Erdogan beharrt auf der Fortsetzung des Bauprojekts am Taksim-Platz, dem Auslöser der Proteste. Doch die sind mittlerweile zu groß. Der Sultan, wie Erdogan oft genannt wird, muss das Einlenken lernen. (Markus Bernath, DER STANDARD, 3.6.2013)