In den zwei zentralen Beiträgen des STANDARD-Schwerpunkts zu ADHS (29. Mai) wird suggeriert, dass mit dem Befund ADHS stets ein klar abgrenzbares Krankheitsbild sicher diagnostizierbar ist. Auch wird stillschweigend von einer genetischen Disposition, also einer biologisch fundierten Beeinträchtigung exekutiver Funktionen ausgegangen.

Seit den Neunzigerjahren hat die Diagnose ADHS lawinenartig zugenommen, die Verordnung von Methylphenidat in gleicher Weise. Waren es 1991 noch etwa 1500 Kinder mit dieser Diagnose, so sind es im Jahr 2011 in Deutschland 757 000 Kinder und Jugendliche, etwa 75 Prozent davon Buben.

Der renommierte Psychiater Gerhardt Nissen hat in seiner Geschichte der Kinderpsychiatrie (2005) geschrieben, dass neuere Untersuchungen auf eine Kerngruppe von einem bis höchstens zwei Prozent mit hirnorganischem Störungsbild hinweisen.

So stellt sich an dieser Stelle schon die erste Frage: Wenn dieses Störungsbild vererbt wird und rein physiologisch bedingt ist, wie kommt es dann zu dieser epidemischen Zunahme an Diagnosen? – Gängige Antwort: Weil ADHS heutzutage immer besser diagnostiziert wird. Habe ich also in meiner bald 40-jährigen Tätigkeit als Kinderpsychoanalytiker Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsstörungen und Affektdurchbrüche übersehen? Tatsächlich ist der Grund für die wundersame Vermehrung ein anderer: Störungen des Sozialverhaltens und ADHS sind dadurch gekennzeichnet, dass sie teilweise ineinander übergehen. Dies führte dazu, dass irgendwann alle Störungen des Sozialverhaltens als ADHS diagnostiziert wurden, ich vermute auch, weil dann eine Pharmakotherapie möglich ist. Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass lediglich bei zehn bis 20 Prozent der Fälle von ADHS, gelegentlich mit prä- und perinatalen Schädigungen, gesprochen werden kann.

Es ist eine gesicherte Annahme, dass alle mentalen Vorgänge eine neuronale Entsprechung haben und von molekularen Bewegungen und Zellprozessen im Gehirn begleitet sind: Hirnfunktionen basieren auf der Übertragung von elektrischen und chemischen Signalen, alle seelischen Prozesse sind zugleich biologischer Natur. In Gedanken, Fantasien und Beziehungen wird jedoch aus Biologie alles zu psychischem Erleben und auch neurobiologische Niederschläge können durch Einflüsse von Pädagogik und Psychotherapie wieder verändert werden.

In der Regel handelt es sich bei allen Störungen um ein ständiges Wechselspiel zwischen Leib und Seele sowie einer störenden oder fördernden Umwelt. Dies wird üblicherweise auch bei allen seelischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter so akzeptiert, nur nicht bei Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsstörungen und bei Problemen bei der Beherrschung von Gefühlen und Trieben.

Ab den 1990er-Jahren wurde die ursprüngliche, relativ klare Zappelphilipp-Diagnose in kurzer Zeit auf alle sozialen Störungen ausgeweitet, seelische Ursachen wurden von jetzt an ausgeblendet und mit einem Defekt im Gehirn erklärt. Damit wurde die Seele eliminiert, zentrale Bereiche der Pädagogik wurden medizinalisiert. Gleichzeitig wurden auch alle aus der erzieherischen Verantwortung entlassen: Eltern, Erzieher, Lehrer – von jetzt an war nur noch Chemie im Kopf und als Medikation angesagt. Über den Topf mit brodelnden Konflikten kam ein eiserner Deckel mit der Diagnose ADHS, die nicht mehr angezweifelt werden durfte. Damit wird allen Beteiligten suggeriert, Beziehung, Erziehung und Gesellschaft seien daran nicht beteiligt.

Ich bin durchaus für Methylphenidat in klar indizierten Fällen, auch um besser pädagogisch und psychotherapeutisch arbeiten zu können. Aber was bedeutet es für die Identitätsbildung eines Kindes, nur dann funktions- und leistungsfähig zu sein, wenn es über viele Jahre seiner Kindheit ein Medikament bekommt? Wenn ihm so suggeriert wird, dass sein Gehirn krank sei – vor allem dann, wenn keine weiteren Behandlungen stattfinden?

Will man bei der Feststellung bleiben, ADHS sei immer eine ausschließlich hirnorganische Störung, deren Entstehung nichts mit Beziehung und nichts mit einer veränderten Gesellschaft zu tun habe, so würde ich abschließend gern nur einige wenige Fragen beantwortet haben:

  • Warum sind es fast ausschließlich Buben?
  • Warum wird ADHS umso häufiger bei Kindern diagnostiziert, je jünger deren Eltern sind?
  • Warum wird in unteren Schichten mehr und in höheren Schichten weniger ADHS diagnostiziert?
  • Warum wird bei den Söhnen alleinerziehender Mütter häufiger ADHS diagnostiziert? (Hans Hopf, DER STANDARD, 3.6.2013)