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Wasserwerfer in Istanbul - ein ungleicher Kampf zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung.

Foto: Reuters/Orsal

Kein Filmregisseur hätte die Szenen besser ins Bild setzen können. Polizisten feuern mit Reizgaspistolen auf tanzende Demonstranten. Einsatzwägen zielen mit Wasserwerfern brutal in die Menge. Das Wasser ist offenbar mit Reizgas vermischt, denn überall steigen weiße Nebelschwaden auf. Schwefelgestank. Dem prominenten Journalisten Ahmed Sik wird gleich ein ganzer Kanister voller Reizgas auf den Kopf geworfen. Er und andere Kollegen landen im Krankenhaus. Auch PassantInnen sind nicht vor dem "Feuerwasser" der Polizei gefeit. Giftig ist das Zeug allemal.

An die 20 Stunden dauert dieser ungleiche Kampf zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung. "Diren Gezi" ist auf den Plakaten zu lesen – zu deutsch sinngemäß "halte durch Gezi, wehre Dich". Gezi, das ist einer der wenigen noch erhaltenen Parks im Zentrum Istanbuls, gleich beim Taksim-Platz. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan jedoch hat beschlossen, diesen Park einem Einkaufszentrum und der Rekonstruktion einer früheren Kaserne zu opfern, die einst, so heißt es, auch Hort Atatürkfeindlicher Militärs war.

Moscheegänger Erdogan schlägt zurück

"Im Westen geht die Sonne auf" lautet ein viel zitierter Leitspruch des einstigen Staatschefs Atatürk. Mit Brachialgewalt hatte dieser in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Türkei auf Westkurs getrimmt. Im ersten Weltkrieg war das Osmanische Reich als Verbündeter der Krieg führenden Kaiserreiche Österreich-Ungarn und Deutschland auf der Verliererseite gelandet. Der osmanische Vielvölkerstaat wurde aufgeteilt, den "Rest" machte Atatürk zur säkularen Türkei.

Zimperlich war er dabei nicht. Vor allem nicht gegenüber Minderheiten und Religiösen. Nun schlägt der gläubige Moscheegänger Erdogan zurück. Auch in der Türkei soll sich die Sonne wieder am Osten – dort wo Mekka liegt -  orientieren. Erdogans Gegner nennen seine Politik islamischen Faschismus. Für eine gewaltlose Rückkehr zu "alten Werten" sind jedoch nicht wenige, so genannte Wertkonservative zu haben.

Möglicher Flächenbrand

"Tayyip – tritt zurück, schau wie viele wir sind", skandieren die Demonstranten. Das Ökothema Gezi-Park wächst aus zu einem generellen Protest gegen Erdogans Politik. Nicht nur in Istanbul, auch in anderen Städten kommt es zu solidarischen Protestkundgebungen. Gezi war nur der Anlass - durchaus möglich, dass ein Flächenbrand entsteht. Jedenfalls hoffen das Erdogans politische Gegner.

Begonnen hatte alles ganz friedlich am Montag als Sit-in im Gezi-Park. Freitag eskaliert die Situation. Knapp 20 Stunden dauert gestern der ungleiche Kampf zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung. In Wellenbewegungen marschieren immer mehr Menschen, vor allem junge,  Richtung Taksim. Wahllos zielen die Wasserwerfer nicht nur in die Menge, auch auf die Häuserreihen entlang der Straße. Das im Wasser enthaltene Reizgas zieht durch sämtliche Fensterritzen. Atemnot, Übelkeit, brennende Augen auch in den Wohnungen der Anrainer. Freunde hat sich die Regierung auch bei diesen nicht gemacht: sie beginnen, die Demonstranten zu unterstützen. "Habt keine Angst, tanzt". Tanzend, singend, in die Hände klatschend kommen die DemonstrantInnen immer wieder zurück. Gegen 22.00 Uhr kehrt zunächst Ruhe ein. Samstag morgen wird auch in anderen Istanbul-Stadtteil weiter demonstriert. Vom Bosporus her schallen die Protestrufe entgegen. Wieder Wasserwerfer, wieder Tränengas, wieder Gewalt. Nur zu Fuß oder per Taxi kommt man weiter. Die Öffis sind gesperrt.

Journalismus als Hofberichterstattung

Auch die türkische Medien berichten. Sie zitieren die Statements seitens der USA und der EU sowie die Sorge um die Missachtung des Versammlungsrechtes und des Rechtes auf freie Meinungsäußerung. Wir werden sehen, ob und wie sie Anfang der Woche über den Prozess gegen Füsun Erdogan berichten werden. Die Angeklagte war Chefredakteurin des  Özgür Radyo in Istanbul und schrieb für die Internetplattform "bianet". Seit September 2006 sitzt sie in Untersuchungshaft - wegen angeblicher "leitender Funktion in einer terroristischen Vereinigung".

Die Namensgleichheit mit dem Ministerpräsidenten ist zufällig. Kein Zufall dürfte sein, dass in der Türkei Journalismus, sofern er nicht Hofberichterstattung ist, amtlich mit Terrorismus verwechselt wird. Bekanntlich gilt die Türkei als eines der größten JournalistInnen-Gefängnisse der Welt. Tanzen und singen kann man da nicht.  Noch ist unbekannt, wie viele DemonstrantInnen in Sicherheitsgewahrsam genommen wurden, genommen werden.  (Rubina Möhring, derStandard.at, 1.6.2013)