Unsichere Überfahrt: zusammengepfercht auf engem Raum in veralteten, unsicheren Kähnen, am Schiffsboden Exkremente, ausgelaufenes Benzin und Salzwasser ... 

Foto: Sabine Gruber

Es ist von Wien aus nicht einfach, nach Lampedusa zu kommen. Doch lande ich nach drei Flügen und neun Stunden sicher auf der Insel und schäme mich schon für diesen ersten Satz; denn jene anderen Reisenden erreichen die Insel meist unter erbarmungswürdigen Bedingungen oder gar nicht. Sie sitzen zusammengepfercht auf engem Raum in veralteten, unsicheren Kähnen, am Schiffsboden Exkremente, ausgelaufenes Benzin und Salzwasser, das bei höherem Seegang über die Reling geschwappt ist.

"Da Bolzano a Lampedusa" hörte ich schon als kleines Mädchen sagen, was so viel heißt wie vom hohen Norden bis in den tiefsten Süden, eigentlich von Europa bis nach Afrika, denn die etwas mehr als 20 Quadratkilometer große Insel befindet sich bereits auf der afrikanischen Kontinentalplatte. Als Kind hatte ich keine Vorstellung von Entfernungen, schon gar nicht von diesem entlegenen Ort, nur das Wort Lampe blieb lange in meinem Kopf. "Lampa", lese ich bei Fabrizio Gatti, einem Journalisten, der mit den Flüchtlingen unterwegs war, nennen viele Migranten die ihnen unbekannte Destination. "Lampas", das Feuer, das Licht des Leuchtturms, ist Teil des Inselnamens, es verspricht Rettung mitten im Meer.

Lampedusa war immer Stützpunkt für Schiffsbrüchige und Durchreisende aus Europa nach Afrika und umgekehrt. Lange gehörte die Insel, die näher bei Tunesien als bei Sizilien liegt, den Fürsten Tomasi di Lampedusa, Vorfahren des gleichnamigen sizilianischen Schriftstellers. Erst nach dem Verkauf 1843 an das Königreich beider Sizilien wurde sie aus strategischen Gründen dauerhaft besiedelt. Der Handel mit Holzkohle fand, nachdem man den Wald geschlagen und eine Wiederaufforstung verabsäumt hatte, ein baldiges Ende; die Bodenerosion machte die Insel weitgehend unfruchtbar; blieb noch der Fischfang. Um 1880 wanderten sogar einige "lampedusani" nach Nordafrika aus, in der Hoffnung, dort bessere Lebensbedingungen vorzufinden.

Noch zu Monarchiezeiten richtete man auf der Insel eine Strafkolonie ein; während des Faschismus, insbesondere nach dem missglückten Attentat auf Mussolini im Oktober 1926, begann man tausende Verdächtige, Antifaschisten, Anarchisten und Homosexuelle an diese peripheren Orte zu verfrachten. Viele Inselbewohner haben Verbannte als Vorfahren. Darüber gesprochen wird kaum. Vielleicht verstärken diese Vergangenheit und die extreme geografische Lage das unter den Insulanern noch immer vorherrschende Gefühl, nicht zu Italien und zu Europa zu gehören, von allen vergessen worden zu sein, obwohl auch Lampedusa Teil von EU- Förderprogrammen ist.

Beim Landeanflug hat das Meer noch wie ein weiches, dunkelblaues Stofftuch ausgesehen, schon wenige Stunden später schlagen die Sessel auf meinem Balkon gegen das Geländer, und ich kriege eine Vorstellung von den starken Winden, die über die Insel fegen und die Fischerboote im Hafen in wildes Schaukeln versetzen. Mein Zimmernachbar steht auf dem Balkon und hält die Markise fest, die es aus der Verankerung gerissen hat. Ich hab auf meinem Weg zum Hotel keinen afrikanischen Flüchtling gesehen, obwohl Tage zuvor zwei Boote mit 180 Menschen, davon 17 Frauen und zwei Neugeborene, etwa 130 Seemeilen südlich der Insel von der Küstenwache entdeckt und nach Lampedusa gebracht worden sind.

Die erste Schwarze begegnet mir am nächsten Morgen auf dem Werbebild eines Serviettenhalters; in den folgenden Tagen blicke ich noch oft in das schöne Frauengesicht mit den geschlossenen Augen; kaum eine Inselbar, die den Kaffee nicht vom Produzenten aus Marsala bezieht. Ausgerechnet auf der Insel Lampedusa, die ein Symbol für massenhafte Immigration von Menschen aus Afrika geworden ist, deren Einwohner mit der Ankunft immer neuer Hilfesuchender überfordert sind, wird das Volksgetränk Nummer eins von einer unbekannten Schwarzen beworben: "il piacere nero", der schwarze Genuss.

Mir kommen all jene Afrikanerinnen in den Sinn, die es zwar über das Mittelmeer nach Europa schaffen, aber als Zwangsprostituierte und rechtlose Frauen ein Milliardengeschäft für die Mafia und die Menschenhändler sind. "Il piacere nero", sexistisches und ausbeuterisches Vergnügen vorwiegend weißer Männer.

Ich werde von den "lampedusani" in Ruhe gelassen, wenngleich sich schnell herumspricht, woher ich komme, welchen Beruf ich ausübe und wo ich nächtige, nachdem ich mit einigen Einheimischen Gespräche geführt habe. Hier kennt jeder jeden, und in der Vorsaison ist die Neugier groß. Alle seien hier "gente di mare", Menschen des Meeres, auf gegenseitige Hilfe angewiesen und daher freundlich, erklärt mir einer, der im Sommer den Touristen die Insel vom Meer aus zeigt und im Winter Übersiedlungen auf dem Festland organisiert. Als ich nach den Migranten frage, sagt er, dass man sie möglichst schnell nach Sizilien oder auf die "terraferma" bringe. Die Negativschlagzeilen hätten dem Tourismus geschadet und die Existenzgrundlage der Inselbewohner gefährdet; viele Urlauber, vor allem die Kinder, würden sich vor den Schwarzen fürchten; außerdem hätten sie andere Moralvorstellungen - er habe gerade mehrere nackte "extracomunitari" gesehen.

"Extracomunitari" sind Nicht-EU-Mitglieder, die Bezeichnung wird aber in Italien herabwürdigend für recht- und mittellose Einwanderer verwendet. Schweizer, Japaner und andere Nichtunionsbürger sind per Definition auch "extracomunitari", werden aber aufgrund ihres ökonomischen Backgrounds nicht so genannt. Der Lampedusaner, der sich über die nackten Migranten empört hat, regt sich auch über die neue Bürgermeisterin Giusi Nicolini auf, eine linke Umweltschützerin, die im Mai 2012 den korrupten und inzwischen wegen Veruntreuung angeklagten Dino De Rubeis abgelöst hat. Nicolini betreibt eine Politik, die vielen nicht passt: Sie hat die widerrechtlich aufgestellten Verkaufsbuden auf der Spiaggia dei Conigli, die von TripAdvisor 2013 zum schönsten Strand der Welt gewählt wurde, abreißen lassen und dafür gesorgt, dass die Caretta-Schildkröten ungestört ihre Eier in den Sand legen können. Vor ihr müssen sich auch die Besitzer der illegal gebauten Ferienhäuser fürchten.

Im August letzten Jahres sagte sie in einem Interview, sie hoffe inständig, dass die Migranten es schafften, die Küsten der Insel zu erreichen. Die Hetze, die daraufhin gegen sie einsetzte, reichte von öffentlichen Beschimpfungen bis zu Brandanschlägen auf die Schmiede ihres Vaters und auf eines von drei Flüchtlingsbooten, die als Ausstellungsobjekte für das Migrationsmuseum vorgesehen waren. Nicolini protestierte schon vor ihrer Amtszeit als Bürgermeisterin gegen die Kriminalisierung der "immigrati", gegen ein europäisches Guantánamo. Ihre Sprache ist eine andere: Sie meidet das Wort "sbarchi", Anlandungen, spricht von "soccorsi", Hilfsmaßnahmen. Für die Einwanderer sei Lampedusa nicht das Ziel der Reise, sondern nur eine Etappe auf dem Weg zu ihren Verwandten in andere europäische Länder oder in ein sichereres Leben. Im September vor zwei Jahren kam es wegen Überfüllung zu einer Revolte im Aufnahmelager; ein Trakt brannte aus. Die Aufnahme der Flüchtlinge müsse in einem würdigen Rahmen erfolgen, der Inselaufenthalt kurz sein, ist Nicolini überzeugt. Lampedusa, sagte sie, habe die Rolle des Sprachrohrs für eine radikale Revision der Immigrationspolitik in Europa.

Die mutigen Stimmen für eine menschenwürdigere Flüchtlingspolitik mehren sich in Italien, es sind auffällig viele weibliche. Mutig, weil diese engagierten Frauen, wie die neue, aus dem Kongo stammende Integrationsministerin Cécile Kyenge, wie die Präsidentin der Abgeordnetenkammer Laura Boldrini oder eben Giusi Nicolini, Opfer von frauenverachtenden Hasskampagnen sind und für ihr politische Arbeit Todesdrohungen erhalten. Noch vor zwei Jahren empfing Nicolinis Amtsvorgänger De Rubeis die Rechtspopulisten Marine Le Pen und Mario Borghezio auf der Insel, welche die humanitäre Katastrophe für ihre politischen Propagandazwecke nutzten und für eine Schließung der europäischen Grenzen plädierten.

Den Abend verbringe ich lesend vor einer Bar in der Via Roma, auf der sich das Leben der Insel abspielt. Es schlendern ein paar "immigrati" vorbei, sie gehen zu zweit oder zu dritt, als hätte man sie angewiesen, Gruppenbildungen zu vermeiden, einige sind elegant gekleidet, besser als viele Inselbewohner; Frauen sind keine darunter. Die meisten Neuankömmlinge, erfahre ich, stammen aus Somalia, sie sind alle sehr jung, kaum 20 Jahre alt.

Mir fallen die anderen ein, die Ertrunkenen, die das Meer verschlungen hat; inzwischen sind es weit über 6000 Menschen, mehr als Lampedusa Einwohner hat, Schicksale ohne Namen. Ich denke an die Sturmböen der letzten Nacht, an die viel zu leichten Gummiboote der Flüchtlinge, die, oft schon in Küstennähe, vom Wind wieder aufs offene Meer hinausgetrieben werden. Ein Überlebender - ich las es in der Zeitung - hat sich an die Reste eines Schlauchbootes klammern können. Die jungen, an mir vorbeispazierenden Männer sind in solchen "gommoni" angekommen, sie haben Glück gehabt. Die Insel ist ihrem Namen noch einmal gerecht geworden.  (Sabine Gruber, Album, DER STANDARD, 1./2.6.2013)