Mit den Erfolgen der Grünen und der Aussicht auf Regierungsbeteiligung auch im Bund ist eine kleine interne Richtungsdebatte losgebrochen: Sind die Grünen (in den Ländern) eher bürgerlich oder (in Wien) eher links ?

Die Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou versuchte darauf im STANDARD das Thema wegzublödeln: "Ich definiere bürgerlich als artig sein und schön grüßen, Zähne putzen und manierlich sein." Und: "Für mich ist bürgerlich keine politische Kategorie."

Ein schwerer Irrtum. Oder der Versuch, einer Debatte auszuweichen.

"Bürgerlich" ist eine politische Kategorie schlechthin. Selbst das von Maria Vassilakou vehement betriebene Projekt "mehr Fahrradfreiheit in Wien" hat etwas mit "bürgerlich" zu tun. Die stark steigende Zahl von Radbenutzern ist soziologisch überwiegend bürgerlich, oder sagen wir: Mittelschicht. Die Arbeiterschicht will eher motorisiert sein oder muss es aus praktischen Gründen. Von den daraus entstehenden Konflikten weiß die Wiener SPÖ ein Lied zu singen.

Historisch ist "bürgerlich" gesellschaftlicher Sprengstoff gewesen. Die Aufklärung, die Industrialisierung, die "bürgerlichen Revolutionen" (zum Beispiel von 1848) waren Bewegungen des aufstrebenden Stadtbürgertums gegen die absolute Monarchie, die Vorrechte des Adels und der Kirche, gegen Rückständigkeit, Obskurantismus und Vorurteil.

Die Frage ist, ob heute noch ein klar abgegrenztes Bürgertum im Sinne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts existiert. Aber die Ziele - Aufstieg, Bildung, persönliche Freiheit, Ablehnung obrigkeitsstaatlicher Gängelung, der Glaube an Rechtsstaat und Demokratie - gelten für viel mehr Menschen als damals.

Das - öffentliche - Eintreten für etwas, das jenseits der ganz unmittelbaren persönlichen Interessen liegt, ist ein bürgerliches oder meinetwegen ein Mittelschichtphänomen. Die Unterschicht hat mit dem Überleben genug zu tun und neigt zu autoritären "Lösungen"; die oberste Oberschicht ist meist egoistisch und übt ihren Einfluss hinter den Kulissen aus. Aber der Kampf um politische, kulturelle, individuelle Freiheit, um die Möglichkeit offener Debatte, um intakte Natur, gegen Rassismus, um Sauberkeit im öffentlichen Leben, die Solidarität für Benachteiligte - das ist ein Mittelschichtphänomen. Oder ein bürgerliches. Oder eben ein grünes.

Die grüne Führungsspitze will aber die "Bürgerlich"-Debatte nicht, weil sie in Wien ein starkes altlinkes Funktionärs- und "Basis"-Element hat. Deshalb, und auch weil Glawischnig und Vassilakou, obwohl aus bürgerlichem Haus, eher links sozialisiert wurden, versucht man eine retrolinke Rhetorik und Programmatik, besonders in Wirtschaftsfragen. Obwohl man weiß, dass ein Großteil der Wähler eben "bürgerlich" ist.

Alexander Van der Bellen hat freilich recht, wenn er (auch im STANDARD) meint: "Grüne Wähler sind in hohem Maß gut situiert, wollen deswegen aber nicht, dass es anderen schlecht geht." Ja, viele Grünwähler denken solidarisch. Aber sie dürfen schon fragen, was mit dem geschieht, was sie "abgeben" sollen. Wenn sie höhere Steuern dafür zahlen sollen, dass Pensionsprivilegien oder dubiose "Förderungen" für eine bestimmte Klientel weiterfinanziert werden können, hört sich die Solidarität vielleicht auf.

"Bürgerlich" sind nicht geputzte Zähne, bedeutet auch nicht ein dickes Bankkonto, sondern eine Werthaltung, die von den meisten Grünen wohl geteilt wird. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 29.5.2013)