Die Künstler gesegneter Epochen durften von sich glauben, im Einklang mit der Schöpfung zu stehen. Was immer sie malten, schrieben oder musizierten, es huldigte der Natur. Damit eiferten die Artisten einem Gott nach, dessen Allmacht jeden Gedanken an Schöpfungspfusch von vornherein ausschloss.

Mit der etwas vollmundigen Verkündigung von Gottes Tod war es um die künstlerische Harmonie geschehen. Mit heiterer Gelassenheit markiert der russische Kulturphilosoph Boris Groys (65) den Zeitpunkt, als die Avantgarden auf den Plan traten.

Der Zerfall eines ganzheitlichen Weltbildes ging einher mit der " Ermordung" Gottes. Die Technisierung der Menschheit öffnete im 19. Jahrhundert den Horizont der Welt. Die Skeptiker mutmaßten sofort, dass mit dem Überschreiten aller Grenzen sich unweigerlich das schwarze Chaos auftäte.

Der Großessay Gesamtkunstwerk Stalin (1988) beantwortet die Frage nach dem Zusammenhang von Totalitarismus und Kunst auf gänzlich unerwartete Weise. Die wüstesten Vorreiter des Fortschritts in der Kunst waren in Wahrheit Defensivkünstler. Indem sie die Vernichtung der Natur durch den modernen Rationalismus konstatierten, waren sie keineswegs mutwillige Bilderstürmer. Was die Avantgardisten von den Nostalgikern höchstens unterschied, war ihre Überzeugung, dem Übel sei mit althergebrachten Methoden nicht abzuhelfen.

Groys' packende Beweisführung gehört zu den grundlegenden Dokumenten der Postmoderne. Mit ungerührter Miene zieht er einen Verbindungsstrich, der von Malewitschs Schwarzem Quadrat hin zum "Sozialistischen Realismus" der sowjetischen Stalin-Ära führt.

Während weniger, folgenreicher Jahre zu Anfang des 20. Jahrhunderts stellten die Künstler noch einmal die Forderung nach der Weltherrschaft. Es liegt vielleicht in der Natur der Sache, dass viele ihrer Findigsten und Klügsten den Wettstreit mit der Politik um die Herstellung einer schönen neuen Welt nicht überlebten. Tatsächlich waren es die russischen Futuristen und andere Sektierer, die 1917 aus freien Stücken mit den Bolschewisten paktierten. Dabei nahmen sie auch in Kauf, die Aufsicht über ihre Arbeit mehr und mehr an die Organe der "allwissenden" Partei abzutreten.

Zugrunde liegt dieser Situation die Idee des vollständigen Bruchs. Der Avantgardist möchte die Welt in ihren vielfältigen Erscheinungsformen von Grund auf neu ordnen. Der herkömmliche Künstler tritt das Urteil über seine Arbeit an den anonymen Kunstmarkt ab. Der Avantgardist erschafft neue Formen für neue Menschen. Ihm ist daran gelegen, das Kunstsystem gegen die vorhandene Welt einzutauschen. Diese wünscht er zu zerschlagen, um sie zur Gänze neu aufzubauen.

Das "lebensbauende Projekt der totalen Mobilisierung im Namen der schönen Form" kostete in der Sowjetunion Millionen das Leben. Mit der Änderung der geltenden Leitlinien wurden die Avantgardisten beseitigt. An ihre Stelle trat Stalin. Dieser etablierte eine Kunst, die seinen Herrschaftsanspruch zur Gänze widerspiegelte. Die Bilder drückten von 1930 an den "einheitlichen Willen" der Volksmassen aus. Dieser war mit dem des Parteiführers angeblich identisch. Erst in ihrer Pervertierung erlebte die Avantgarde eine Art Geistertriumph. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 29./30.5.2013)