Manche Beobachter haben die Leipziger Feiern zum 150. Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie mit hämischer Schadenfreude kommentiert. Das Übermaß an Lob und Verständnis für die SPD schien in ihren Augen eher der Würdigung eines "teuren Verstorbenen" als einer politischen Kraft zu entsprechen. Die SPD wurde national und international zwar gelobt und gefeiert, doch glaubt kaum jemand, dass diese Partei in vier Monaten gewinnen würde. Laut einer Infratestanfrage halten nur 35 Prozent der Befragten die SPD für "die politische Interessenvertretung der Arbeitnehmer", 59 Prozent verneinen dies.

Trotzdem wäre es unklug, die Bedeutung des Festaktes zu unterschätzen und die Rolle der deutschen Sozialdemokraten zu verniedlichen. Es war der sozialistische französische Staatspräsident François Hollande, der über den Wert des Kompromisses sprach, der kein Verrat eines Ideals sei, sondern dessen Übertragung in die Wirklichkeit. Die SPD verabschiedete sich von "utopischen Fernzielen" und sei, so Bundespräsident Gauck, eine treibende Kraft bei der Durchsetzung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geworden. Parteichef Sigmar Gabriel zog die durch die Anwesenheit der Staats- und Regierungsspitze symbolisierte Schlussfolgerung, es gebe noch harten Streit, aber keine Feindschaft mehr.

Die Sozialdemokratie kann - und nicht nur in Deutschland - nur als Partei der sozialen Mitte erfolgreich sein. Die Partei, der von Bismarck bis Adenauer mangelnder Patriotismus ("vaterlandslose Gesellen") vorgeworfen wurde, hat in den letzten 50 Jahren drei bedeutende Kanzler gestellt: Willy Brandt, den Architekten der Friedenspolitik gegenüber Osteuropa; Helmut Schmidt, Symbol des Widerstandes gegen den Terror der RAF und Gerhard Schröder, der mit seiner Reform des Arbeitsmarktes die Grundlage für den auch von Hollande anerkannten wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands gelegt hat.

Von der SPD sagt man manchmal, sie sei eine "geborene Oppositionspartei". Willy Brandt, der aus schwedischem Exil zurückgekehrte, introvertierte Romantiker wurde von der Basis geliebt, Helmut Schmidt aber wegen seiner Außen- und Rüstungspolitik und Gerhard Schröder wegen seiner Wirtschaftsreform gestürzt. Für das politische Schicksal der beiden von den eigenen Genossen verjagten Bundeskanzler gilt wohl die Feststellung des vor 200 Jahren geborenen dänischen Denkers Sören Kierkegaard: "Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben nach rückwärts verstanden werden muss. Dabei vergisst man aber den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss."

Das Jubiläumsfest hat auch eine in den Medien weitgehend unbeachtete Zäsur in der internationalen Linken bedeutet. Auf Initiative der SPD gründeten nämlich über 70 sozialdemokratische und linksliberale Parteien eine neue Dachorganisation, die Progressive Allianz und brachen mit der diskreditierten und korrupten Sozialistischen Internationale. Der einst von Willy Brandt präsidierten Internationale hatten jahrzehntelang bis zum Sturz der Diktatoren Mubarak und Ben Ali, die von diesen gegründeten Parteien aus Ägypten bzw. Tunesien angehört. Eine überfällige Flurbereinigung und ein Neubeginn der internationalen Linken. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 28.5.2013)