Die Darstellung, Araber hätten Nazis im Zweiten Weltkrieg unterstützt, habe politische Wurzeln, sagt Autor Gilbert Achcar.

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Desaströse Darstellungen über den Holocaust in arabischen Schulbüchern gehen auf Initiativen der Regime zurück, die so versuchten, islamistische Strömungen einzuhegen, sagt Autor Gilbert Achcar zu Manuel Escher.

Standard: Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit der arabischen Rezeption des Holocaust. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Achcar: Es ist eine ganz einfache Geschichte: Ein Freund ist Mitherausgeber einer Reihe zum Holocaust in Italien. Er bat mich, ein Kapitel über den Nahen Osten zu schreiben. Und dabei habe ich bemerkt, wie umfangreich in der bisherigen Forschung die verzerrte Darstellung über die arabische Einstellung zum Holocaust war.

Standard: Was waren das für Verzerrungen?

Achcar: Knackpunkt ist die "Nazifizierung" der Araber. Die Darstellung, dass die Araber die Nazis unterstützt hätten. Diese Logik führt dazu, dass der Krieg von 1948 als eine Art letzte Schlacht des Zweiten Weltkriegs gezeigt wird. Das wird von der zionistischen Bewegung politisch genutzt. Es gibt einen Haupt-Bösewicht: Amin al-Husseini, Mufti Palästinas, der den Krieg in Rom und Berlin verbrachte. Er war ganz sicher Kollaborateur. Aber er wird in dieser Darstellung auf alle Palästinenser projiziert. Was er getan hat, wurde aber nicht allgemein getragen, er wurde kritisiert.

Standard: Was wissen wir über die öffentliche Meinung damals?

Achcar: Es gab natürlich keine Umfragen. Aber es gab Medien, die politische Strömungen wiedergaben. Sie zeigten, dass die Mehrheit sehr kritisch war. Man kann öffentliche Meinung auch daran ermessen, was passiert ist: Trotz aller Aufrufe von al-Husseini gab es keine Aufstände gegen die Briten. Im Krieg kämpften etwas mehr als 6000 Araber mit den Nazis. Allein aus Palästina gab es 9000 Menschen, die in der britischen Armee dienten. Eine Viertelmillion Nordafrikaner kämpfte gegen die Nazis.

Standard: Wie standen sie zum Antisemitismus?

Achcar: Rassistischer Antisemitismus ist ein sehr westliches Produkt. Er begann in den späten Zwanzigerjahren aber islamische Fundamentalisten zu beeinflussen. Andere Denkrichtungen waren der rassistischen Dimension gegenüber sehr kritisch, auch deswegen, weil sie erkannten, dass Araber im nationalsozialistischen Antisemitismus nicht viel besser wegkamen als Juden.

Standard: Wie wird der Holocaust heute in arabischen Schulbüchern dargestellt?

Achcar: Schulbücher reflektieren natürlich Einstellungen der Regierungen. Und die sind in der arabischen Welt, was das Thema betrifft, desaströs. Sie beuten die schlimmsten Einstellungen aus, um ihre eigene Zusammenarbeit mit Israel zu übertünchen. Unter Mubarak wurde in ägyptischen Schulbüchern der Holocaust oft völlig ignoriert. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt. Zu tun hat das mit einer Verschiebung von linken zu islamistischen Bewegungen, die die alten Regierungen zu befrieden versuchten.

Standard: Gäbe es mehr Anerkennung des Holocaust, wenn es Anerkennung der Vertreibung der Palästinenser 1948 gäbe?

Achcar: Ganz sicher. Die Menschen sehen, dass Israel den Holocaust als Legitimation verwendet, und sagen dann: "Das muss erfunden sein." Aber auch in dem Fall ist es Leugnung eines Genozids von jemandem, der ihn nicht begangen hat. Das ist schlimm, aber hat nicht die gleiche Bedeutung, wie wenn es der Täter tut.

Standard: Geht es wirklich darum, dass das Wissen fehlt, oder darum, das Schlimmstmögliche zu sagen?

Achcar: Es gibt eine Art reaktive Leugnung. In Umfragen, unter Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft - in einer Gruppe, die über den Holocaust Bescheid weiß, weil sie israelische Schulbücher und Lehrpläne verwendet - gab es nach 2000 einen massiven Anstieg der Holocaust-Leugnung. Das stand in Zusammenhang mit der Intensivierung der Unterdrückung. Aber heißt das, dass Leute plötzlich den Holocaust für einen Mythos halten? Nein - sie wollen ihren Ärger ausdrücken, und sie glauben, dass das die beste Möglichkeit ist.

Standard: Wie gehen islamische Geistliche insgesamt mit dem Thema Holocaust um?

Achcar: Die Verurteilung des Antisemitismus als Rassismus ist recht weit verbreitet, Islamisten erklären oft, dass der Islam den Buchreligionen, also Christen und Juden, gegenüber tolerant sei. Natürlich rutschen dann manche davon dennoch in einen Diskurs über "die Juden" ab, der rassistisch ist.  (Manuel Escher, DER STANDARD, 25./26.5.2013)