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Grafik: apa/artinger
Wien - Die Zunge ist schön rot gefärbt, was auf eine gute Durchblutung schließen lässt. Und sie ist nicht geschwollen. Was darauf hindeutet, dass sich keine Infektion eingeschlichen hat und dass das Immunsystem des 42-jährigen Wiener Krebspatienten nicht mit einer Abstoßung auf die fremde Zunge reagiert. Zumindest noch nicht. Ob die weltweit erste Zungentransplantation, die vergangenen Samstag im Wiener AKH durchgeführt worden war, tatsächlich erfolgreich ist, wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten herausstellen. Dienstag deutete jedenfalls alles darauf hin. Die Geschichte dieser Weltsensation begann freilich viel früher.

Die erste erfolgreiche Organtransplantation bei einem Menschen wurde bereits 1954 durchgeführt. Es war eine Niere. Die ersten Lungen und Lebern folgten 1963, vier Jahre später verpflanzte der mittlerweile verstorbene südafrikanische Arzt Christiaan Barnard erstmals ein Herz. Derartige Eingriffe sind inzwischen Routine geworden. Teilt man die Ansicht Barnards, der meinte, "das funktioniert deshalb so gut, weil das Herz nur ein dummer Muskel ist", fragt man sich, warum die Zunge bis heute auf sich hat warten lassen - ist sie nicht auch "nur ein dummer Muskel"?

"Ein dummer Muskel"

Mitnichten. Denn anders als das Herz, das (simplifiziert) - richtig an die Gefäße des Organempfängers angeschlossen und nicht abgestoßen - aus sich heraus anspringt und zu pumpen beginnt, ist die Zunge ein hoch komplexer Muskel mit unterschiedlichen Aufgaben, die eben nicht autonom übernommen werden. Umso mehr hängt der langfristige Erfolg dieser ersten Zungentransplantation davon ab, ob die Nerven wieder zusammenwachsen (siehe Grafik). Das Anschließen der dazugehörenden Gefäße und die Verpflanzung des Zungenmuskels selbst sind - obwohl kompliziert genug - demgegenüber nicht so heikel.

Das neunköpfige interdisziplinäre Ärzteteam unter Leitung von Christian Kermer, Oberarzt an der Uniklinik für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie, zeigte sich nach dem 14-stündigen Eingriff jedenfalls zuversichtlich. Der Patient werde aller Voraussicht nach wieder die Beweglichkeit seiner Zunge zurückgewinnen, auch die Sensibilität. Nicht jedoch das Geschmacksempfinden.

Vor gut zehn Wochen kam der Patient erstmals an die Klinik, klagte, er könne den Mund kaum mehr öffnen. Diagnose: "Plattenepithelkarzinom". 90 Prozent der Zunge waren verkrebst, darüber hinaus die Mandeln sowie Teile des Unterkiefers samt dazugehörender Muskulatur. Standardbehandlung: Strahlen-und Chemotherapie mit anschließender Entfernung der Zunge. Diese wird normalerweise mit Teilen des Dünndarms des Patienten ersetzt. Nur ist der halt kein Muskel. Der Patient hätte nie mehr sprechen und schlucken können, hätte sich über eine Magensonde ernähren müssen.

Also entschied sich der Mann für die Transplantation. Mittels Abgleichs der Daten aller in Wien gemeldeten Hirntoten - nach Erkrankung oder Unfall - wurde rasch der richtige Spender mit der geeigneten Blutgruppe gefunden.

Ein Nerv war zerstört

In einer 14-stündigen Operation wurde dem Patienten die Zunge samt Tumor und einem Teil der Kiefers entfernt, das fremde Organ verpflanzt, die Kieferlücke mit einem Metallimplantat verschlossen. Die beidseitig verlaufenden motorischen "Hypoglossusnerven" (für die Beweglichkeit zuständig) waren vom Tumor nicht angegriffen, konnten mit ihren adäquaten Enden in der Spenderzunge vernäht werden. Von den sensiblen "Lingualisnerven" war der rechte zerstört, so konnte nur der linke angeschlossen werden. Bei einem Nervenwachstum von einem Millimeter pro Tag und einer zu überwindenden Strecke von acht Zentimetern wird man also in rund 80 Tagen wissen, ob sich die Beweglichkeit wieder einstellt.

Da jede Zunge viel lymphatisches Gewebe enthält (wo sich Gift- und Abfallstoffe des Körpers anreichern) ist die Gefahr einer Infektion und einer Abstoßung sehr groß. Daher erhält der Mann hoch dosierte Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken. 80 Prozent aller Abstoßungsreaktionen nach Transplantationen treten in den ersten drei Wochen auf. Bisher zeigt sich nichts. Also hoffen die Ärzte. Und der Patient, der derzeit keine Schmerzen habe. (fei/DER STANDARD, Printausgabe, 23.7.2003)