Nach den Streikproblemen bei französischen Festivals ging die Tanztruppe von Angelin Preljocaj nach Venedig, um vertanzte Grenzsituationen zu präsentieren.

Foto: Biennale

Nicht den Tod in Venedig, sondern die Wiedergeburt feierte die französische Tanzkompanie von Angelin Preljocaj mit der Uraufführung von Near Life Experience letzten Samstag im Palafenice in Venedig. Die Premiere, wenn man es extrem formuliert, war einer Art Künstlerexil, da das Tanzstück in Frankreich nicht gezeigt werden konnte.

Die anlässlich des Tanzfestival von Montpellier geplante Uraufführung fand wegen Absage des Montpellier-Festivals nicht statt, und auch die Aufführungen beim Festival von Avignon, das bekanntlich ebenfalls abgesagt wurde, fallen aus.

Venedig, das sich anlässlich der Biennale sein 1. Festival Internazionale di Danza Contemporanea leistet, kam auf diese Weise zu einer Weltpremiere. Das österreichische Publikum wird wohl das nächste sein, das Near Life Experience am 3. und 4. Oktober im Festspielhaus in St. Pölten zu sehen bekommt. Denn auch das Tanzfestival von Aix-en-Provence (wo Preljocaj seit 1996 das Staatliche Tanzzentrum leitet) wird wahrscheinlich Anfang August annulliert. Die triumphal aufgenommene venezianische Premiere kam also wie ein Segen für die deprimierte Tanzkompanie.

Der 1957 in Frankreich als Kind von Exilalbanern geborene Choreograf Angelin Preljocaj gründete 1984 seine eigene Kompanie und hat seither ein bis drei Stücke pro Jahr choreografiert: zeitgenössischen Tanz mit einem sehr abstrakten Bewegungsvokabular. Rasch kamen Aufträge der großen Opernhäuser, das klassische Tanzrepertoire zu aktualisieren: für die Pariser Staatsoper, das New York City Ballet, die Opern in Stockholm und Helsinki, das Münchner Ballett.

Zuletzt gab es 2001 eine Koproduktion mit der Staatsoper Berlin bei Le Sacre du printemps von Igor Strawinsky unter der Leitung von Daniel Barenboim. Voriges Jahr gastierte die Kompanie bereits in St. Pölten mit Noces von Strawinsky. Mit 24 Tänzern gehört die Aixer Kompanie zu den größten in Frankreich. Die Hälfte der Tänzer hat jedoch das derzeit so umstrittene Statut der "Intermittents", d. h. sie werden nur dann von der Kompanie bezahlt, wenn sie proben und auftreten. Die restliche Zeit überbrücken sie mit Arbeitslosenunterstützung.

Die Grenzerfahrung

Near Life Experience, ein achtzig Minuten dauerndes Stück für elf Tänzer, spielt bereits im Titel mit dem von den Ärzten als klinischen Tod deklarierten Moment, den der Patient überlebt: Near Death Experience. Eine Todeserfahrung, die einer eisigen, rasenden Bobsleigh-Fahrt durch einen Tunnel ähnlich ist. Überleben wird zur Wiedergeburt.

Preljocaj arbeitete dementsprechend mit den Tänzern über Zustände wie Koma, Ohnmacht, Hingabe, Verzückung, Nirwana, Orgasmus trotz Todesangst. Im weißen Bühnenraum stehen nur zwei Tennis-Schiedsrichtersessel. Ein muskulöser Tänzer schlängelt sich langsam-genießerisch durch alle Querbalken des Sessels, während die anderen immobil im Halbschatten warten und dem Luststöhnen einer Frau lauschen. Einer nach dem anderen erwachen sie zum Leben und tanzen eine Serie von etwa zwanzig Tanzsequenzen.

Der rote Faden, der aus diesen - zum Großteil sehr fotogenen - Tanzszenen ein homogenes Stück machen sollte, wird auf der Bühne mit einem roten Knäuel tatsächlich aufgerollt. Als Metapher fehlt er aber den europäischen Zuschauern zum Verständnis. Mit dem Buddhismus Vertraute begreifen die Szenen, wo Paare einander mit roten Fäden umgarnen, mehrere Tänzer ein halbnacktes Paar miteinander verbandeln, als ein Beziehungsgeflecht, das ihnen aufgrund ihres Glaubens an die Wiedergeburt verständlich ist.

Die Wiedergeburt, die ein in Schlagobers getauchter Tänzer am Schluss mimt. Ein Urknall ertönt zum Finale. Ihm folgten begeisterte Publikumsovationen, die sicher auch der Musik der Gruppe Air galten, die mit Gitarre, Klavier und Elektronik den auf Sanftmut, (zu viel) Distanz und kühle Erotik bedachten Tanz des Angelin Preljocaj verstärkten. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.7.2003)