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Die französischen Architekten Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal verweigern spektakuläre Bauten. Nicht das Außen, das Innen zählt. Das Architektur- Zentrum Wien widmet dem radikal stillen Duo eine Personale.

Patentrezepte für gute Architektur gibt es nicht. Um Räume zu schaffen, in denen sich Menschen gern aufhalten, braucht es mehr als Funktion, Form und Material. Rasch und instinktiv erspüren alle Sinne die Atmosphäre, die Lebendigkeit zulässt. Sie entsteht aus schwer messbaren Größen. Im Umgang damit sind Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal wahre Meister. Ihre intuitive, poetische Architektur nimmt die spezifischen Schwingungen eines Ortes auf, um sie um eine neue Facette zu bereichern.

Mit "Lacaton & Vassal. Jenseits der Form" zeigt das Architekturzentrum Wien eine Personale des französischen Duos. Ihre Lehr-und Wanderjahre verbrachten die zwei in Afrika. Präzise und bedürfnisorientiert lernten sie dort, aus einem Minimum an Ressourcen ein Maximum an schattigem Wohnkomfort zu schaffen. Sechs Monate suchten sie den passenden Ort für eine Strohhütte in Niamey, Westafrika. Auf einer Sanddüne, die von den kühlen Böen am Niger profitierte, wurde das Haus mit Umfriedung in zwei Tagen aufgebaut. Das war 1982. Der Wind zerstörte die Hütte, die sich dem Kreislauf der Natur fügte und hochökonomisch zu Sand wurde. Der früheste Bau der beiden, seinem Grundprinzip blieben sie treu: "Dass man mit fast nichts so viel machen kann, ist der Gedanke, der uns immer leitet."

Die Planungsweise der Architekten entspricht ihrer Haltung. Sie verzichten auf Skizzen, Pläne, Modelle und Computeranimationen, verschwenden keine Energie an formale Spielereien und spektakuläre Bilder. Stattdessen verbringen sie viel Zeit vor Ort, beobachten dortige Verhaltensweisen genau, lassen alles auf sich wirken. In präziser Analyse und intensiven Recherchen werden Nutzerbedürfnisse umfassend registriert. Gemeinsam mit Professionisten diverser Sparten forscht man nach der besten Lösung. Wesentlich ist der Prozess, kontinuierlicher Austausch führt zu innovativer Materialanwendung. Die Essenz der vielschichtigen Kommunikation fließt in den letzten, maßgeblichen Plan. Er bleibt das einzige Dokument, das gebaute Resultat spricht für sich. Lacaton & Vassal schrecken auch vor konsequenter Enthaltsamkeit nicht zurück. Entzückt von der stillen, gewachsenen Harmonie der Place Léon Aucoc in Bordeaux, wollten sie den Ort so belassen, wie er war. Die Projektentwicklungszeit investierten sie in eine schlüssige Argumentation, um auch den Bürgermeister von ihrer unauffälligen Lösung zu überzeugen. Kleine Sanierungs- und Verkehrsmaßnahmen waren alles, was es brauchte.

Die beiden denken nicht in den eingefahrenen Bahnen ihrer Profession. Pflanzen, Stoffe, Gewächshäuser, Aquarien zählen ebenso zu ihren Baumaterialien wie Beton, Glas und Stahl. Mit dem Haus Latapie in Floirac stießen sie 1993 an den Wahrnehmungshorizont der interessierten Fachwelt vor, die seither ihr Werk neugierig verfolgt. Knapp 55.000 Euro kostete das zweigeschoßige Einfamilienhaus am Rand von Bordeaux. Es besteht aus einem Holzkubus mit Sanitär- und Stiegenkern. Die Längsseiten lassen sich durch Schiebe- und Falttüren völlig öffnen oder schließen. Als zugeknöpfte Wellblechkiste oder einladend freundlich zeigt sich das Haus zur Straße, gartenseitig ist ein beheiz- und belüftbares Glashaus mit transparenter Polycarbonatverkleidung vorgeschaltet. Es schafft angenehmes Wohnklima, bietet eine hohe, morgensonnenlichtdurchflutete Zusatzzone mit Luftraum und Gartenblick. Luxus zum Low Budget.

Die Universität für Kunst und Humanwissenschaften in Grenoble hat auch eine Polycarbonatplattenfassade, dahinter Pflanzentröge. Bei gutem Raumklima haben alle, die hier mit rauchenden Köpfen lernen, die Option auf den Blick in die blühende Pracht. Sechs Gärten mit verschiedenfarbigen Rosenbüschen bereichern die Architekturschule in Compiègne, einen geradlinigen, zweigeschoßigen Riegel mit großzügiger, kommunikationsfördernder Mittelzone.

Natur ist bei Lacaton & Vassal viel mehr als ein Schlagwort. Um den dichten Pinienhain einer traumhaften Bucht am Atlantischen Ozean nicht zu dezimieren, wurde ein Haus in Lège auf Stelzen überm Boden gebaut, die sechs Bäume am Grundriss wachsen einfach weiter durch Wohnraum, Oberlichten und Terrasse durch. Liebevoll wurden die Stämme eingefasst, Dach- und Bodenabdichtungen drumherum geführt. Das Haus in Coutras besteht aus zwei vorgefertigten, je 150 m großen Glashäusern: eine Holzkonstruktion verwandelt eins zum Wohnhaus, das zweite bleibt Wintergarten. Schatten spenden textile Elemente, ein intelligentes Heiz- und Belüftungssystem garantiert optimales Raumklima. Eine extrem billige, innovative Form des Wohnens. Bei den "Maisons à Mulhouse" soll das Prinzip seriell zur Anwendung kommen. "Architektur ist wie Kleidung auf der Haut: Ein Haus besteht aus Schichten, die das Leben bekleiden, das sich unter seinem Dach ereignet!", lautet die Maxime von Lacaton & Vassal.

Ihre radikale Architektur stiller Innerlichkeit verweigert sich spektakulären Bildern und signifikanten Baukörpern. Trotzdem sind die beiden in den Focus der internationalen Debatte vorgedrungen: Am 28. Mai wurde der Preis der Europäischen Kommission für zeitgenössische Architektur an Zaha Hadid vergeben. Im Rennen war aber auch der Umbau des "Palais de Tokyo" in Paris zum Zentrum für zeitgenössische Kunst von Lacaton & Vassal. Ursprünglich sollte das "Palais" ein Kino werden, doch als die Kosten explodierten, kam es zum Baustopp. Dekor und Zwischenwände waren weg, der Beton der Substanz von 1937 lag frei, dafür kam das Raumvolumen ungeteilt und unverfälscht zur Geltung. Das installationsartige Industriehallenambiente befand das Duo als ideal für moderne Kunst, im Prinzip wurde das Baustellenflair beibehalten. Das "Palais" ist heute eine lebendige Flaniermeile für alle.

"Die ehemaligen kaiserlichen Hofstallungen: militärisch, streng, hart, autoritär. Selbst der Himmel ist in den Höfen eingerahmt, diszipliniert", so charakterisierten die zwei Franzosen das Wiener Museumsquartier, wo sie die Cafeteria Una planten. Kacheln mit Blumengirlanden und Arabesken überziehen nun die alten Gewölbe, zaubern einen Hauch von orientalischem Müßiggang und Laissez-faire ins Lokal. Lang dauerte die Suche nach dem Design, die Muster sind nach alter Vorlage von Asiye Kolbai Kafalier entworfen. Im Siebdruck gefertigt, handbemalt, mit Unregelmäßigkeiten behaftet, wirken die türkischen Kacheln, als wären sie immer da gewesen. Assoziationen an die Genesis hiesiger Kaffeekultur nisten unter diesem Baldachin. Angeregtes Stimmengewirr, die Augen wandern in den Hof, aufs Gewölbe. Lange Kabel schwingen sich empor, an einem Ende die Lampe, das andere mündet in einen Stecker. Erfrischend unkomplizierte Lösungen wie diese, verschiedene Sitz – und Stehzonen verleihen dem Una seinen Charme. An der Wand ein Satz von Lacaton & Vassal: "Es ist die Lösung im Inneren, die das Äußere bestimmt."
(DER STANDARD, Printausgabe, 19./20.7.2003)