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Revolutionär, Tölpel, Biedersinniger: Richard Wagner hat viele Gesichter.

Foto: Zigarrendose mit Wagnerkonterfei, Corbis

Er macht es einem schon schwer. Der Wilhelm Richard Wagner, am 22. Mai vor 200 Jahren geboren zu Leipzig. Revolutionär, Neuformulierer einer ganzen Kunstrichtung aus Musik, Sprache und Theater, Egomane (was nichts Besonderes ist, jeder halbwegs gute Komponist musste das sein). Die Hälfte seines Lebens lebte Wagner auf der Flucht, die andere verbrachte er als hypertropher Bürger. Er benutzte alle Menschen seines Umfelds und beschenkte die Massen mit Klängen und Märchen, mit grausamem Aktionismus und der Erlaubnis, im Unbewussten in höchster Lust herumzuplätschern. Affären, Festspiel-Pomp, erster avantgardistischer Weltmusiker: Wagner starb morbid-stilgerecht am 13. Februar 1873 zu Venedig, fast die ganze Musikwelt brach damals in Schluchzen aus.

Ihr Kodifikateur war tot, jener der Schauderromantik im Fliegenden Holländer, des deutschen, selbstbespiegelnden, falschen Historismus vor allem im Tannhäuser und Lohengrin, der Formulierer dessen, was bis heute Neue Musik heißt, mittels Tristan und Isolde; aber zudem der Schöpfer des Nibelungenmonsters, das sprachlich wie musikalisch in seiner Dauer kein Äquivalent hat; Nationalist, Tölpel und Biedersinniger zu Nürnberg; Christus-Buddha-Nachfolger zwischen Amfortas und Parsifal.

Richard Wagner blieb seitdem einer der meistdiskutierten Menschen, einer, dessen Produkte mit horrenden Kosten verbunden sind, einer, der Volksteile politisch prägte und zudem alle Komponisten bis jetzt (die meisten gewaltig, fast alle zu viel, kaum wen nur minimal), der Kunstschriften und Pamphlete verfasst hat, der mit seiner Sprache (vor allem ab dem Ring) die deutsche Rede mehr beeinflusste als jeder seiner Zeitgenossen; einer, der den Aufsatz Das Judenthum in der Musik (1850/1869) zum Druck brachte, wodurch er weltweit oft mehr Aufmerksamkeit, Verstörung, Zustimmung und Abscheu erregt als durch Kompositionen und Theateraktionen.

Ein Meister aus Deutschland, Wagner.

Nervt er nicht total? Ist er nicht so inkorrekt, so mies, dass man ihn lieber temporär vergessen sollte?

Man weiß wahrscheinlich einfach zu viel vom Wagner. Seine Musik (bloß zehn Riesenopern und ein paar Trainingswerke) kann man sich, zumeist ziemlich ähnlich interpretiert, reinziehen. Außerdem wurden mit der Leitmotiv-, Chromatik- und Verblüffungstechnik jene uns aktuell schon mehr oder weniger die gesamte Wach-Zeit umschmeichelnden Filmsounds, die bombastischen Berieselungsmaschinen, die Grusel- und die Parteitagsklänge erfunden. Er hat in eifrigsten Selbstzeugnissen und mittels seiner Jüngerinnen und Jünger seine Wagner-Welt voll dokumentiert zurückgelassen. Bis heute lutschen Millionen Enthusiasten daran.

Und da frage ich mich, was wäre, wäre dem nicht so? Hörten wir den Wagner anders, wüssten wir, von ihm selbst vor allem, so wenige Details wie vergleichsweise von Bach, Haydn oder Mozart (sie haben sich nämlich in ihren Aussagen/Briefen jenseits von Musik eher versteckt als geoutet).

Allein er, Richard/Übermensch, schlägt sich inzwischen vor uns gewaltig mit seinem Meistertum herum:

Erstens - Eros, den er trotz Frauen/Freundinnen selbst in seinen Keusch-Huren, Venusberg-Zaubergarten-Girlies, deutschen Mädels wie Eva, Gutrune, Freya und Rheintöchter, Ethik-Professorinnen à la Erda und Fricka oder Hysterikerinnen zwischen Senta, Elisabeth, Elsa und Brünnhilde nicht findet. (Da lobt man die wenigen Ausnahmen, die arme Sieglinde vor allem, oder die Ortrud, die wenigstens pragmatisch mies agiert.)

Zweitens - Sprache und Plots, wo Handlungen, Betrügereien, Grausamkeiten und Lust am Untergang intim und dann wieder in Massenhysterie ausbrechend als Schein(er)lösungen mit Herumgetümle und Stabreimen (viele davon gingen in die Umgangssprache ein) wetteifern. (Aber auch da darf man den Wagner manchmal exkulpieren, denn haben Sie etwa die anderen Star-Sprachgebilde der Zeit wirklich gelesen? Den zweiten Faust etwa oder den Zarathustra? Dagegen sind Wagner-Texte hübsche Divertissements.)

Drittens - die Tatsache, dass die meisten Kritiker, selbst diejenigen, denen diese komischen Dramen mit Musik rundum gefallen und die das alles gemächlich um sich herum geschehen lassen, von Zusammenhängen, kompositorischen Sensationen oder Untergangsbrutalitäten keine Ahnung haben (wollen).

Und übrig bleiben wieder nur Fragen an mich.

Zum Beispiel. Diese primitive Scheiße und Aufgeilung zugleich, das Sich-Hingeben in Mythe, Videoclip-Artigem und riesiger Star-wars-Musik - wie weit kann die Eigenerlaubnis gehen nach Aufklärung im liberalen Ethos?

Zum Beispiel. Noch in den 50ern und 60ern nach dem Weltkrieg II wurde Wagner gehört, besucht, mittels der ersten Schallplattengesamtaufnahmen in manchen Kreisen genussvoll zelebriert, weil man so doch nicht ganz den Krieg gegen Sozis und Juden verloren hätte.

Zum Beispiel. Rausch. Denn dann sitze ich doch wieder in einer Oper, sagen wir: der Wiener. Das Orchester ist zum Greifen nah, die Karte war sauteuer, fast wie für die Rolling Stones, egal. Es wabert, die Walküren sammeln Helden auf, Loge lässt alles zischen und krachen, die Natur vermittelt ihre grausamen Geheimnisse, die Menschen erschlagen sich gegenseitig; viele Musikabschnitte sind solitär geblieben, niemals wurden ein Trauermarsch, eine Verzauberung oder kindliches Glück derartig großartig komponiert, in keiner Pop-Grandiosität, auch nicht unter Zuhilfenahme aller elektronischer Verführungskünste.

Zum Beispiel. Der R. W. liefert zu seinem Zweihunderter weiterhin mehr Stoff, als die neue Musik 2013 zwischen E- und U- und Welt- hergibt. Er bedient die Spießer zwischen sich im Wagner-Jubiläum verschuldenden Provinztheatern bis zu Salzburg und Bayreuth, wo von Merkel abwärts Trägerpersönlichkeiten gaffend sitzen, stundenlang, vor krampfiger Bühnenavantgarde in Parabeln von Macht und Verbrechen, zwischen Sektempfängen in überlangen Pausen.

Zum Beispiel. Ein hohles Scheitern zieht gleichzeitig durch den Geist von Musik und Theater, sogar dann noch, wenn neue und poetische Biografien oder gar Romane und Filme über unseren oder mit unserem Meister verfasst werden sollten. Adorno, Mann, Visconti - um nur drei mit unterschiedlichem Zugang und höchster Prominenz zu nennen - gehören dazu.

Aber - vielleicht fragte ich mich nicht genug?

Viel Wagner. Wieder gehört, gesehen, vorgespielt, verglichen (auch mit sonstigen Opern-Plots, Märchentheater und feschen Sachen à la Tatort): Was für ein elendiglicher Quatsch - trotz der gültigen Grundthemen in oft archaischer Wucht. Ja. Es lässt sich kaum ein neues Buch schreiben über ihn, es ist alles gesagt. Ja. Die bedrängende Musik wird von den meisten sowieso nicht verstanden oder durchschaut, die Vorlagen und die Klangwolken klingen schal. Ja. Vielleicht wäre es besser, die zehn Monstren ein paar Jahre nicht zu geben, sich nicht mit ihnen zu ärgern oder aufzugeilen? Aber stattdessen irgendwie mit der Entsetzensschrift fertig zu werden, dort, wo jüdischen Menschen generell ein Musikempfinden abgesprochen wird, mehr noch, wo es um Endlösungen mit diesen Musik-Juden geht. Mit Recht hinterfragt man heute Politik, Faschismus, Ideologie und Kunst. Zu heftig und unwissend wie etwa bei Schostakowitsch, zu wenig wie etwa bei Franz Schmidt (der noch auf dem Totenbett an seiner bombastischen Führerhuldigungskantate arbeitete) oder Hanns Eisler (Säulenheiliger und Benützer der DDR) und so fort.

Ich frage mich, warum geht man mit dem Wagner vergleichsweise so zärtlich um? Weil er Drogen liefert?

Schutz gesucht beim Karl May, er in Heldenvergötterung und parareligiöser Untergangslust dem Richie W. nicht unähnlich. Ein Spätwerk, Der Ölprinz. Es kommen Grausamkeiten vor (Skalpierungen, Folter etc.), die jeden Wagner und die meisten Hyperbrutalo-Webs in den Schatten stellen. Aber, dort bereist (neben den üblichen Übermenschen von Old Shatterhand abwärts) ein Kantor emeritus, Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden, den Wilden Westen auf der Suche nach Material für einen Wagner ebenbürtigen Riesenopernzyklus, der mit dem auf dem Bauch liegenden kundschaftenden, singenden Winnetou eröffnet werden soll. Danke, R. W.      (Otto Brusatti, Album, DER STANDARD, 18./19.5.2013)