Ein Vorfall in Bukarest: Die Bühnenbildnerin Cornelia wird durch einen Anruf aus einer Musiktheaterprobe geholt. Ihr Sohn Barbu hat einen Unfall verursacht, ein Junge aus einer Familie "einfacher Leute" ist ums Leben gekommen. Sofort beginnt Cornelia mit ihren Interventionen. Sie will Barbu unbedingt vor den Folgen seines Fehlers bewahren. Und so entfaltet Calin Peter Netzer in seinem Film "Mutter und Sohn" ein Netz von Abhängigkeiten, Rücksichtnahmen, Beziehungen, aus denen sich ein komplexes Bild der rumänischen Gesellschaft ergibt.
STANDARD: Ihr Film beginnt mit einem Gespräch zwischen zwei Frauen und dann einem Fest. Ist das die heutige rumänische Elite, der Cornelia angehört?
Netzer: Cornelia ist, so wie ich sie sehe, nicht wirklich Teil der Elite. Sie ist Architektin, ihr Mann ist Arzt. Sie wäre gern Teil der Oberschicht und schmückt sich mit Kontakten zur Elite. Und sie kann es sich leisten, ihrem einzigen Sohn eine übergroße Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
STANDARD: Dieses Milieu sieht man eher selten im rumänischen Kino, das ja in den letzten zehn Jahren große Erfolge verzeichnete. Man spricht von einer Neuen Welle, wie bei der berühmten Nouvelle Vague in Frankreich.
Netzer: Genau, und ich wollte eine Geschichte, die einmal nicht in der ärmlichen Umgebung spielt, die für diese Filme charakteristisch ist. Was ich erzähle, ist im Grunde universal, könnte überall passieren.
STANDARD: Hatten Sie von Beginn an vor, mit Luminita Gheorghiu zu arbeiten, die ja in Rumänien ein großer Star ist?
Netzer: Beim Schreiben haben wir an sie gedacht, danach habe ich allerdings noch einmal gecastet. Ich wollte vielleicht ein frischeres Gesicht haben. Luminita hat in so vielen Filmen der jüngeren Generation des rumänischen Kinos mitgespielt. Aber im Casting war sie die weitaus Beste. Für den Film wollte ich sie dann äußerlich ein wenig verändern. Es war schwierig, sie in diese soziale Welt zu versetzen. Sie wollte das, war aber auch zögerlich. Wir haben ein halbes Jahr lang darüber gesprochen.
STANDARD: War sie persönlich distanziert gegenüber ihrer Figur?
Netzer: Da bin ich mir nicht so sicher. Bis heute glaubt sie, dass Cornelia recht hat. Das zeigt wiederum, wie sehr sie sich auf die Rolle eingelassen hat.
STANDARD: Der Film ist so erzählt, dass auch wir dazu gebracht werden, uns auf diese Frau einzulassen.
Netzer: Das war die Idee: Cornelia zu verstehen. Barbu natürlich auch und die pathologische Geschichte zwischen ihnen. Die Herausforderung war, die ganze Background-Geschichte zu zeigen, warum sie an dem Punkt sind, an dem sie sind. Es war die Wette des Films, keine von den beiden Figuren zu diskreditieren.
STANDARD: Die Szenen mit der Polizei sind sehr aufschlussreich. Wir sehen da jede Menge Facetten gelingender und misslingender Institutionalität.
Netzer: Die Polizei funktioniert inzwischen ein bisschen besser in Rumänien, aber von der Politik her ist es ein totales Chaos, ein Spektakel. Es passieren Sachen, die ich schwer verstehe. Man wird nicht satt, das zu beobachten. Vor zehn, 15 Jahren hätten sich manche Szenen, wie ich sie zeige, nicht so zugetragen. Die Sache wäre damals sehr schnell geklärt worden, zugunsten von Cornelia und Barbu. Jetzt zeigen die Polizisten am Anfang ihre Prinzipien, erst danach werden sie flexibel. Das finde ich interessant: wie sich die Moral von Menschen schrittweise verändert, wenn man ein wenig Druck macht.
STANDARD: Sie deuten manchmal Differenzen zu anderen rumänischen Filmen an. Sind Ihnen "Aurora" von Cristi Puiu oder "Polizist, Adjektiv" von Corneliu Porumboiu zu pessimistisch?
Netzer: Nicht zu pessimistisch, aber zu radikal.
STANDARD: Radikal in ihrem Gesellschaftsbild oder in ihrer Form?
Netzer: Radikal in ihrer Form. Ich mag die Filme von Cristi Puiu immer erst mit einem zeitlichen Abstand, mit Ausnahme von "Der Tod des Hernn Lazarescu", der unmittelbar verständlich ist. Puius erster Film "Marfa si banii" (2001), der häufig als erster "neuer" rumänischer Film bezeichnet wird, hat mich damals nicht überzeugt. Das erschien mir zu sehr deklarierte Nouvelle Vague.
STANDARD: Wie hat sich Ihre Beziehung zum Kino entwickelt?
Netzer: Mein Kino entdeckte ich in den 90er-Jahren. Damals lebte ich in Stuttgart. 1981 blieb mein Vater nach einem Kongress dort, 1983 konnte ich mit meiner Mutter nachkommen. Ich erinnere mich, dass ich damals "Die Blechtrommel" im Fernsehen sah, das hat mich geschockt. Danach kamen "Taxi Driver" und solche Sachen. In Stuttgart war ich nie so richtig integriert, ich hatte keine richtigen Freunde und bin oft allein ins Kino gegangen. Nicht nur Arthouse, auch Blockbuster. 1994 ging ich zurück nach Rumänien.
STANDARD: Das war entscheidend für Ihre Filmkarriere?
Netzer: Ja, allerdings war es alles andere als einfach. Damals wurde ich fast als Ausländer gesehen. In Deutschland war ich ein Einsiedler, in Bukarest war ich ein Fremder. Ich habe ja meine Kindheit in Cluj verbracht, das ist in Transsilvanien. Das Kino meiner Kindheit heißt Victoria. Ich ging da immer hinten rein, ohne zu zahlen. Es ist inzwischen renoviert, ein kleines Arthouse, das funktioniert. Cluj hat eine gute Filmkultur, die Leute sind besser geschult, auch durch das lokale Festival. Bukarest ist etwas anderes, dort verspürt man viel stärker einen gewissen Balkanismus. Cluj ist mehr im Westen.
STANDARD: Die kommunistische Ära und die Revolution kommen in "Mutter und Sohn" nicht direkt zur Sprache. Doch ist überall deutlich, dass es sich immer noch um eine postrevolutionäre Gesellschaft handelt, in der Partizipation auszuhandeln ist. Oder hat Rumänien die Revolution schon verspielt?
Netzer: Nicht verloren, aber die Entwicklung verläuft sehr langsam. Allerdings wäre ich nicht so an Rumänien interessiert, wenn es anders wäre. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 23.5.2013)