Seit 1982 begleitet Reintegra psychisch erkrankte Menschen bei ihrem Neu- und Wiedereinstieg ins Berufsleben. Unter anderem bietet die gemeinnützige Gesellschaft auch selbst Dienstleistungen an: Das Maler- und Bodenhandwerk etwa ist bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr beliebt.

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Wir wollen keine Endstation für pychisch Erkrankte sein, sondern ein Durchläufer, aus dem man möglichst rasch wieder herauskommen soll, sagt Stefan Brinskele, Geschäftsführer von Reintegra.

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Neben weiteren hauseigenen Dienstleistungen wie der Schmuckmanufaktur, dem Erhaltungs- und Industrie-Handwerk oder einem Catering-Service versucht Reintegra laufend auch externe Unternehmen davon zu überzeugen, Arbeitsplätze für psychisch kranke Menschen anzubieten.

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In nur drei Jahren stieg die Zahl der psychischen Erkrankungsfälle mit einhergehender Arbeitsunfähigkeit um mehr als 20 Prozent.

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Arbeit schafft Struktur im Leben. Genau diese Struktur fehlt besonders Menschen, die aufgrund einer psychischen Krankheit aus dem Arbeitsprozess herausgefallen sind. Die gemeinnützige Gesellschaft Reintegra in Wien versucht, diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. derStandard.at sprach mit Geschäftsführer Stefan Brinskele über die Situation psychisch Kranker am Arbeitsplatz, die Maßnahmen zur Rehabilitation und die Reform der Invaliditätspension.

derStandard.at: Woran liegt es, dass in den letzten Jahren immer mehr Leute aufgrund einer psychischen Erkrankung in Invaliditätspension geschickt werden?

Brinskele: Hier spielen zwei Faktoren eine wesentliche Rolle. Der eine ist, dass die klassischen Arbeitgeber, zum Beispiel aus dem öffentlichen Bereich, die früher auch nicht so leistungsfähige Menschen genommen haben, immer mehr unter Kostendruck stehen. Es werden sukzessive Posten abgebaut, und die Ersten, die dann draußen stehen, sind die Schwächsten, und das sind sehr oft Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der zweite Faktor ist sicher der Arbeits- und Genauigkeitsdruck, der gestiegen ist. Auch die Privatwirtschaft ist gezwungen, mehr im Unternehmen zu verlangen. Und die, die den Druck als Erste nicht aushalten, sind psychisch Kranke. Viele lasten sich den Druck auch selbst auf, beruflich viel zu erreichen.

derStandard.at: Aber es scheiden ja nicht gleich alle Menschen mit psychischen Krankheiten ganz aus dem Arbeitsleben aus.

Brinskele: Nein, aber wir sehen schon sehr stark, dass die Zahl dieser Menschen steigt. Und das korreliert mit Faktoren wie dem Wirtschaftswachstum. In Rezessionszeiten sehen wir, dass die Drop-out-Rate von psychisch Kranken aus den Unternehmen steigt.

derStandard.at: Liegen psychische Krankheiten beim Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess weit vorne?

Brinskele: Derzeit liegen sie an dritter Stelle, aber das Wachstum ist enorm. Es ist abzusehen, dass in zwei, drei Jahren die psychische Erkrankung die Diagnose schlechthin sein wird.

derStandard.at: Psychische Erkrankungen sind für Außenstehende und die Gesellschaft oft unsichtbar. Warum ist der Wiedereinstieg dieser Personen so schwierig?

Brinskele: Wenn ich als Personalverantwortlicher einen Menschen vor mir habe, von dem ich nicht weiß, dass er psychisch krank ist, und ich schaue mir seinen Lebenslauf an, dann sind da Krankenstände, Arbeitslosen- und Notstandshilfebezüge. Ich sehe vier Jahre Arbeit, womöglich in einem Topjob, dann plötzlich ein Jahr nicht, dann wieder drei Jahre und dann wieder zwei Jahre nicht. Es ist einfach diese Lückenhaftigkeit im Lebenslauf. Außerdem verlangt auch fast jedes Unternehmen heute schon einen Versicherungsdatenauszug.

derStandard.at: Muss man im Bewerbungsgespräch sagen, dass man an einer psychischen Erkrankung leidet oder in der Vergangenheit an einer solchen gelitten hat?

Brinskele: Nein, ich muss nicht sagen, dass ich krank bin.

derStandard.at: Aus Ihrer jährlichen Studie geht hervor, dass 80 Prozent der von Reintegra betreuten Personen wieder arbeiten gehen wollen. Gibt es auch größere Studien, in denen auch andere Personen ohne Betreuung befragt wurden?

Brinskele: Leider nicht. Unsere Studie, die wir 2008 begonnen haben, ist eine der ganz wenigen Langzeitstudien zum Thema psychische Erkrankung und Arbeit. Sonst gibt es nichts, aber es wäre hochinteressant und spannend.

derStandard.at: Denn ein Gros der Personen mit psychischen Erkrankungen wird ja nicht betreut.

Brinskele: Das stimmt, da gibt es einen großen Graubereich. Wir haben aktuell 280 Personen bei Reintegra. Beim Psychosozialen Dienst, unserer Muttergesellschaft, haben wir jährlich allein aus dem Bereich Schizophrenie-Erkrankungen mehr als 8.000 erkrankte Patientinnen und Patienten, die nicht arbeitsfähig sind. Sie können sich ausrechnen, um welche Grauzone es da geht. Die ist wesentlich größer als der Ausschnitt, den wir sehen.

derStandard.at: Bis heute hat Reintegra insgesamt rund 4.000 Frauen und Männer betreut. Das klingt wenig, wenn man liest, dass jährlich mehr als 4.000 Personen in Österreich aufgrund einer psychischen Erkrankung in Invaliditätspension gehen.

Brinskele: Ja, das ist natürlich gewaltig. Darum vergrößern wir uns auch. Das ist gerade ein Thema, das wir mit dem Sozialministerium und dem Arbeitsmarktservice diskutieren, weil mit der Reform der Invaliditätspension eine Menge an Personen zukünftig eine richtige Maßnahme bekommt. Wir arbeiten gerade an einer Ausweitung des Angebots, in einem ersten Schritt reden wir hier von mindestens 1.000 Plätzen.

derStandard.at: Reintegra begleitet Klientinnen und Klienten mit schweren psychischen Erkrankungen. Ab wann gelten psychische Krankheiten als schwer? Wann als leicht?

Brinskele: Schwere psychische Erkrankungen sind zum Beispiel Schizophrenie und bipolare Persönlichkeitsstörungen, sie sind behandelbar, aber nicht heilbar. Leichtere sind Verhaltensauffälligkeiten, zum Beispiel Zwänglichkeit oder Essstörungen, die behandelbar sind und manchmal auch heilbar. Die führen auch nicht unbedingt zum Verlust des Arbeitsplatzes. Und Burn-out gehört da auch noch dazu.

derStandard.at: Ihre Dienstleistungsbereiche sind unterschiedlich, von Catering bis zur Schmuckmanufaktur. Wie können Betroffene in diese Werkstätten einsteigen?

Brinskele: Es braucht einen aktiven Akt des Betroffenen, nämlich bei uns anzurufen und zu sagen, dass er oder sie sich eine Einrichtung anschauen möchte. Oder es melden sich die Angehörigen. Wenn dann etwas dabei ist, was ihm oder ihr gefällt, ist eine Bewilligung durch den Fonds Soziales Wien erforderlich, der das ganze finanziert. Dazu braucht es im Prinzip nur einen Arztbrief mit einer psychiatrischen Diagnose. Die ganzen Formalitäten erledigen wir, und wenn ein Platz frei ist, kann der- oder diejenige bei uns beginnen.

derStandard.at: Gibt es Wartelisten?

Brinskele: Unterschiedlich, im Moment haben wir wieder eine Warteliste. Manchmal dauert es zwei Monate, es können manchmal auch sechs Monate sein.

derStandard.at: Man muss sich also nicht bewerben?

Brinskele: Nein.

derStandard.at: Auch nicht, wenn jemand in die Schmuckmanufaktur will und er darin noch überhaupt keine Erfahrung hat?

Brinskele: Nein, im Gegenteil. Wir lassen die Leute das ausprobieren. Interessanterweise wollen ganz viele in den Bereich Malerei und Anstrich, das hat eine besondere Attraktivität.

derStandard.at: Unterstützen Sie nur Personen, die auch eine Invaliditätspension beziehen?

Brinskele: Nein, das ist ganz unterschiedlich. Die Invaliditätspensionsbezieher sind natürlich eine große Gruppe, aber es gibt auch Arbeitslosengeldbezieher oder Menschen, die vom Bundessozialamt finanziert werden, und natürlich welche mit bedarfsorientierter Mindestsicherung, das ist ein ganz stark wachsender Bereich in der letzten Zeit.

derStandard.at: Wie sieht die Entlohnung aus? Gibt es eine?

Brinskele: Ja, aber nur im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Man darf ja nur bis zu einem gewissen Betrag dazuverdienen, meistens ist es die Geringfügigkeitsgrenze. Das Geld ist für diese Menschen aber oft ein ganz wichtiger Baustein der Existenz, denn wenn jemand zum Beispiel 730 Euro Mindestsicherung bekommt, und er noch rund 300 Euro dazu verdient, ist das fast die Hälfte noch einmal drauf, und das ist schon spürbar für die Person.

derStandard.at: Wie lange dauert so ein Arbeitsverhältnis bei Reintegra?

Brinskele: Das hängt ein bisschen vom Fördergeber ab, also vom Fonds Soziales Wien, der befristet es normalerweise immer auf drei Jahre. Wir haben aber auch Fälle, die sieben, acht oder neun Jahre bei uns sind. Es war nie ein Problem, die Verlängerung zu bekommen. Aber wir wollen keine Endstation für die Menschen sein, sondern ein Durchläufer, aus dem man möglichst rasch wieder rauskommen soll. Nur bei schweren psychischen Erkrankungen dauert das einfach Jahre, bis überhaupt wieder etwas möglich ist.

derStandard.at: Helfen Sie den Betroffenen, sich bei anderen Arbeitgebern zu bewerben?

Brinskele: Ja, natürlich. Unser Team der Arbeitsassistenz geht auch aktiv auf Unternehmen zu. Es gibt aber Klienten und Klientinnen, die sich alleine bewerben und Reintegra gar nicht erwähnen möchten. Das ist auch in Ordnung, dann unterstützen wir nicht. Aber wenn er oder sie möchte, helfen wir mit dem Lebenslauf bis hin zur Begleitung zum Bewerbungsgespräch. Das sind übrigens die erfolgreichsten Rehabilitierungen, wenn man mit offenen Karten spielt. Das schafft Sicherheit für beide Seiten.  

derStandard.at: Was passiert, wenn kein passender Job gefunden wird?

Brinskele: Dann bleibt der- oder diejenige bis 60 oder 65 bei uns, und geht dann in die reguläre Pension. Aber dann hört es meistens nicht auf, oft wollen die Leute auch weiter zu uns kommen. Das ist auch möglich.

derStandard.at: Wie gehen Sie auf Firmen zu und versuchen sie zu überzeugen, dass sie psychisch erkrankte Personen aufnehmen sollen?

Brinskele: Wir haben voriges Jahr ein Kompetenzpaket geschnürt, in dem steht, was wir tun und welche Kooperationsmöglichkeiten es gibt. Die beginnen bei einem Praktikumsplatz bis hin zum Insourcing-Projekt, das ist eine ganze Bandbreite. Die Broschüre dazu haben wir an 70 Unternehmen in Wien verschickt und wir hatten dann insgesamt 34 persönliche Gespräche bei den Personalisten. Das hat mich wirklich überrascht! Es sind tolle Kooperationsprojekte daraus entstanden, und wir hatten dann so viele Praktikumsplätze, dass wir gar nicht alle besetzen konnten. Und es haben auch etliche durch diesen Praktikumsplatz einen Job gefunden.

derStandard.at: Dabei spielt wohl auch Corporate Social Responsibility (CSR) eine Rolle.

Brinskele: Ja und nein. Es ist eher so, dass viele Unternehmen das gar nicht kommunizieren wollen. Sie sagen, wir wollen etwas Gutes tun, aber darüber reden wollen wir nicht. Das ist komisch, das ist bei uns in Österreich noch nicht so entwickelt. In Amerika ist das ganz was anderes, da kriegt man fast keine Aufträge, wenn man nicht entsprechende CSR-Projekte vorzuweisen hat.

derStandard.at: Können Sie sich eine Quotenregelung für die Einstellung von Menschen mit psychischen Erkrankungen vorstellen?

Brinskele: Nein, da bin ich total dagegen. Ich glaube, dass man eine Firma nicht dazu zwingen kann, so etwas zu machen. Ich muss sie überzeugen.

derStandard.at: Derzeit wird per Diagnoseverfahren festgestellt, ob man arbeitsfähig ist oder Anspruch auf eine Invaliditätspension hat. Wie sieht es in Zukunft aus, nach der Reform der Invaliditätspension?

Brinskele: Ab dem 1. Jänner 2014 gibt es für unter 50-Jährige grundsätzlich keine befristete Invaliditätspension mehr, sondern zwei Maßnahmen, und zwar Rehabilitationsgeld oder Umschulungsgeld. Beides wird dann von der Gebietskrankenkasse ausgezahlt.

derStandard.at: Wer entscheidet, ob man Reha-Geld oder Umschulungsgeld bekommt?

Brinskele: Das ist eine große ungeklärte Frage, die im Moment zwischen der Pensionsversicherungsanstalt und dem AMS ausdiskutiert wird.

derStandard.at: Welche Vor- und Nachteile haben Personen mit psychischen Erkrankungen von der Reform zu erwarten?

Brinskele: Ich sehe primär Vorteile darin, weil dann endlich ein Anrecht auf Rehabilitation besteht. Das gab es bisher nicht. Bisher hat es niemanden gegeben, der sagen konnte, ich wünsche mir jetzt eine gewisse Zusatzausbildung oder eine medizinische Rehabilitation. In Zukunft hat man einen Rechtsanspruch darauf, und das halte ich für entscheidend. (Jasmin Al-Kattib, derStandard.at, 5.6.2013)