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Westlich orientierte Jugend im islamisch geprägten Zentrum von Novi Pazar: ziellose Hektik. Foto: Alexandra Boulat / VII / Corbis

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Manifestation früher serbischer Präsenz im Sandschak: die Kirche der Heiligen Petrus und Paulus in Novi Pazar.

Foto: Standard/Ivanji

Es ist Mittagszeit. Die Frühlingssonne hat die Menschen auf die Straßen gelockt. Zu Fuß, im Auto oder auf Fahrrädern überqueren sie den Fluss Raska im Zentrum von Novi Pazar. Der Verkehr ist wild und ungeregelt. Ganz wie die Bausubstanz: Heruntergekommene Prestigebauten aus den 1970er-Jahren stehen neben hundert Jahre alten, brüchigen einstöckigen Häusern.

Auch der nahe gelegene Basar ist voll: Von Gemüse über Tee und Gewürze, DVD-Schwarzkopien, die obligatorischen langstieligen Kupferkaffeekännchen bis zur billigen Textilware aus der Türkei kann man alles finden. Es ist vorwiegend Schmuggelware. Und alles sehr billig. Ein Durchschnittseinkommen in Novi Pazar beträgt umgerechnet etwa 200 Euro. Touristen verirren sich kaum hierher.

Man wird von der Energie der Stadt gepackt. Man sieht überwiegend junge Menschen. Es scheint, als ob es alle eilig und zugleich die ganze Zeit der Welt hätten: Hektisch wirkende Menschen treffen sich auf der Straße, bleiben stehen und plaudern dann gemütlich ein halbes Stündchen. Die Arbeitslosenrate von über 50 Prozent, die trostlose Wirtschafts- und die angespannte politische Lage vor Augen, wird man den Eindruck der Ziellosigkeit des ganzen Trubels nicht los. Man lebe in einer "funktionalen Paradoxie", wie ein Einheimischer sagt.

Keine "besoffene Gasse"

In der Fußgängerzone sind die Tische vor den Cafés besetzt. Es sind ausnahmslos Männerrunden. Ein Bier kann man hier allerdings nur in einem einzigen Lokal trinken. Der Eigentümer ist Serbe. "Das ist die wachsende Macht des Islam in den vergangenen zwei Jahrzehnten" , erklärt Vlada Profilovic. Begonnen habe das nach dem Krieg in Bosnien mit dem wachsenden Einfluss des Großmufti von Sarajevo. Früher sei das nicht so gewesen, sagt der Designer und Künstler. Eine Straße an der Fußgängerzone nannte man die "besoffene Gasse", wegen der vielen Lokale mit Alkoholausschank. Es gibt sie nicht mehr.

Doch wer etwas trinken will, weiß, wo er hingehen soll, erzählt Profilovic. Und wer ein Nachtlokal sucht oder Spanferkel essen möchte, kann auch in die nur 20 Kilometer entfernte serbische Ortschaft Raska fahren. Dort ist man schon "in Serbien", von der orientalischen Stimmung und dem Einfluss des Islam ist nichts mehr zu spüren. Wie in Novi Pazar mit dem Islam wird dort mit dem orthodoxen Christentum paradiert.

Die Religionsfrage ist zur Identitätsfrage geworden, und die kulturelle Identität wird politisch missbraucht. Nach dem Prinzip: Du kannst kein Bosniake sein, wenn du nicht gläubiger Muslim bist, und kein Serbe, wenn du nicht orthodox bist. Die Frage, ob man Joghurt zu Cevapcici vom Rind und Schaf trinkt oder Schnaps zum Schweinefleisch, ist im Sandschak zu einem politischen Statement geworden.

Jugoslawien-Nostalgie

Eine Spezialität in Novi Pazar sind Mantije: handgemachte Teigtaschen, gefüllt mit Käse, Faschiertem oder Spinat. Die besten bekommt man im Laden des Ex­boxers Sulejman Dervisnorovic, den alle als "Curo"  kennen. Seine Gastfreundschaft ist überwältigend, sein breites Grinsen unter der gebrochenen Nase wirkt gutmütig. "Das waren noch Zeiten" , schwärmt er von seinen Ringkämpfen. Und vom ehemaligen Jugoslawien, als "wir alle Brüder waren" . Als alle die jugoslawischen Nationalmannschaften anspornten. Nicht wie heute, da Bosniaken aus dem Sandschak grundsätzlich für die Gegner der serbischen Nationalteams sind. Es gibt ein gewaltiges Identitätsproblem der Bosniaken mit dem Staat, dessen Staatsbürgerschaft sie haben. Es ist die Last der Kriege, als der dem nationalistischen Wahn verfallene serbische Staat Bosniaken beziehungsweise Muslime als Feinde betrachtete – und so behandelte.

Selbst für balkanische Verhältnisse betteln unglaublich viele Roma-Kinder auf der Straße. Kellner versuchen, sie wegzuscheuchen. An den Männerrunden in der Hauptstraße gehen westlich gekleidete Frauen in Jeans oder kurzen Röcken vorbei, aber auch Frauen und Mädchen mit Kopftüchern.

In der Ferne läuten Kirchenglocken, während von den Minaretten der Gesang der Muezzins aus Lautsprechern ertönt. Elf orthodoxe Kirchen und Klöster gibt es in Novi Pazar und Umgebung, darunter die Petrova-Kirche aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert, die älteste Kirche Serbiens. Und vierzehn Moscheen, darunter die Altun-Alem-Moschee aus dem 14. Jahrhundert. Im Umkreis von nur 500 Metern liegen ein islamischer, ein orthodoxer, ein katholischer und ein jüdischer Friedhof. Alles ist so nahe, und doch lebt man so entfernt voneinander im Länderviereck zwischen Serbien, Bosnien, Montenegro und dem Kosovo.

Ethnisch reine Schulen

Im Stadtzentrum leben vorwiegend Bosniaken, in den Vororten Serben. Die meisten Schulen sind "ethnisch rein" . Das hat jedoch viel mehr mit dem Wohnort als mit Politik zu tun. Dennoch: Manche jungen Bosniaken lernen während der gesamten Schulzeit keine serbischen Kinder lernen. Die Muftis und die Popen stehen bereit. "Nicht um jungen Menschen die Religionen näherzubringen, sondern um sie politisch einzuspannen" , erklärt Sead Biberovic von der NGO Urban-In.

Und sowohl Belgrad als auch Sarajevo seien völlig passiv und täten nichts für den Sandschak: keine Investitionen, keine Förderungen, keine sozialen Programme. "Die jungen Bosniaken empfinden Serbien leider nicht als ihr Vaterland. Aber auch keinen anderen Staat, weder Bosnien noch die Türkei, weil sich niemand um sie kümmert" , sagt Biberovic. Sie werden auf sich selbst zurückgeworfen. Und wirken immer mehr verloren zwischen den Welten. (Andrej Ivanji aus Novi Pazar /DER STANDARD, 21.5.2013)