Wer die Gesellschaft verbessern will, muss bei Bildung anfangen: Richard David Precht.

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" konstatieren Sie eine "Bildungskatastrophe". Woran lässt die sich denn konkret festmachen?

Precht: Es gibt zwei Katastrophen: Das Schulsystem in Deutschland - und das gilt auch für das österreichische - gehört im internationalen Vergleich zu jenen Schulsystemen, die sozial am wenigsten durchlässig sind, wo die Chance eines Kindes aus einem bildungsfernen Elternhaus, später einmal Matura zu machen oder gar zu studieren, ausgesprochen gering ist. Und in unseren Schulen wird viel zu wenig Bildung vermittelt, was man daran ablesen kann, dass nach wenigen Jahren im Regelfall nur noch ein oder zwei Prozent des Schulstoffs wirklich begriffen sind. Das ist für rund 10.000 bis 15.000 Unterrichtsstunden ein erbärmliches Ergebnis.

STANDARD: An der sozialen Selektion setzt ja die Gesamtschuldebatte an. Österreich und Deutschland verbindet eine innige Hassliebe mit dem Gymnasium, das quasi als Hort des Bildungsbürgertums gilt. Wie erklären Sie sich als Philosoph, der den geistesgeschichtlichen Überbau dieser Länder kennt, das?

Precht: Man denkt ja manchmal, Gesamtschulen wären so eine merkwürdige Schnapsidee der Sozialdemokraten aus den 1970ern, in Wirklichkeit ist das die verbreitetste Schulform in den Industrienationen der Welt. Und nicht zu vergessen: Es gibt Länder, die bei den Pisa-Tests sehr gut abschneiden, die nur Gesamtschulen haben. In Deutschland sind die Gesamtschulen im Regelfall nicht besonders gut, weil es ja noch das Gymnasium gibt. Solange das so ist, werden die real existierenden Gesamtschulen nicht ihr Ziel erreichen. Das ist der Grund, warum man irgendwann das Gymnasium in diese Gesamtschule bis zur zehnten Schulstufe integrieren und damit verschmelzen muss.

STANDARD: Fordert der humanistisch gebildete Philosoph das Ende des klassischen Gymnasiums?

Precht: Ich führe keinen Kampf gegen das Gymnasium, sondern einen Kampf um eine andere Art zu lernen und eine andere Art von Schule. Die wird irgendwann nicht mehr gegliedert sein. Ich verstehe die Argumente derer, die das Gymnasium jetzt verteidigen, aber ich glaube, dass es, wenn wir Schule ganz anders machen, auch keinen Grund mehr geben wird, das Gymnasium zu verteidigen.

STANDARD: Wie würden Sie Schule, wenn Sie sie auf dem Reißbrett neu erfinden könnten, gestalten?

Precht: Mein System kennt kein Sitzenbleiben und keine Noten, weil es keine Klasse kennt. Ich würde die Schulklassen nach der sechsten Stufe auflösen, denn der Grund, warum wir Schulnoten haben, ist ja der, dass wir ein Klassensystem haben, mit Noten kann man die Schüler in der Klasse untereinander vergleichen. Ich möchte auf zwei verschiedene Stränge von Lernen hinarbeiten: das, was man am besten alleine lernt, und das, was man am besten mit anderen lernt. Was man am besten alleine lernt, zum Beispiel Mathe, kann man sich wunderbar je nach eigenem Lernrhythmus selbst beibringen mit Selbstlernprogrammen unter Hilfe eines Lehrers, der sich neben einen setzt wie ein Coach. Da kann man viel schneller und effektiver lernen als in einem Klassenunterricht, wo die Besten fast so gut sind wie der Lehrer und das untere Drittel überhaupt nichts checkt. Das ist Fördern der Schlechten und Fordern der Hochbegabten zugleich.

STANDARD: Und was gehört zu Ihrem zweiten Lernstrang?

Precht: Wir schaffen die künstliche Welt der Fächer ab. Fächer gibt es nur in der Schule, Fächer gibt's nicht in echt. In der wirklichen Welt und den real existierenden Problemen wie dem Klimawandel hängt alles Wissen darüber miteinander zusammen. Da sind Biologie und Chemie nicht getrennt. Sie sollten in Projekten unterrichtet werden, dass die Schüler den Sinn einer Sache, deren Bedeutung für ihr Leben sehen und deswegen verstehen, warum es wichtig ist, vielleicht eine physikalische Formel zu lernen.

STANDARD: Sie wollen ab der sechsten Schulstufe die Klassen auflösen?

Precht: Ja, bis dahin würde ich den Schulverband beibehalten, weil die Kinder das Nest der Klasse brauchen. Aber mit Beginn der Pubertät entwickeln sie sich enorm unterschiedlich. Da sind Wahlgruppen statt des Zweckverbands Klasse für das Lernen sinnvoller.

STANDARD: Ist die bessere Schule eine Ganztagsschule?

Precht: Ich bin dafür, Schulaufgaben statt Hausaufgaben. Das sind dann Hausaufgaben unter Beaufsichtigung von Lehrern, was natürlich viel besser ist, denn so werden die Eltern damit verschont, und es ist kein Förder- und Nachhilfeunterricht mehr nötig. Das machen die Lehrer selber. Nicht, dass die Eltern und der Nachhilfelehrer da eingreifen müssen, wo die Schule versagt. Das ist ja vor allen Dingen sozial problematisch. Die Ganztagsschule verhindert die soziale Selektion der Elternhäuser oder verringert sie zumindest. Darum sage ich: Ganztagsschule bis vier, und dann ist komplett Schluss. Dann gibt's nichts mehr, kein Fördern, keine Nachhilfe, gar nichts. Die Zeit des Lernens bleibt also gleich lang wie bisher. Der Unterschied besteht darin, ob das Kind in der Schule oder im Kinderzimmer sitzt.

STANDARD: Die Schuldebatte hat vor allem im großstädtischen Bereich einen migrationspolitischen Subtext, der da lautet: Mein Kind soll nicht mit denen lernen, die nicht gut Deutsch können, da verliert es den Anschluss an die hochtourige Arbeits- und Wissensgesellschaft. Was sagen Sie diesen Eltern?

Precht: Zwei Dinge: Die Berufswelt, die die Kinder, die jetzt in die Schule kommen, erwartet, wird sehr viel entspannter sein als die gegenwärtige. Die werden zwar möglicherweise länger arbeiten, aber sie werden ja auch viel älter werden. Da es heute weniger Kinder gibt, wird der Konkurrenzkampf immer weniger werden. Das heißt: Für alle sind Jobs da. Also: Entspannt euch, es ist für alle genug da. Und ich bin für eine Kindergartenpflicht für alle Kinder ab drei. Dann kann jedes Kind mit sechs Jahren Deutsch. Das Problem sind ja die, die nicht in einen Kindergarten gehen und mit sechs das erste Mal mit Deutsch ernsthaft in Berührung kommen.

STANDARD: Sie haben sich mit dem Ich, der Liebe, den Egoisten beschäftigt. Warum jetzt die Schule?

Precht: Seit der Antike ist es eine ganz wichtige Aufgabe von Philosophen, sich in die Gesellschaft einzumischen. Denn die eigentliche Frage der Philosophie ist nach Platon und Aristoteles die Frage nach dem richtigen Leben für möglichst viele Menschen. Bildung ist ein ganz wichtiger Teil davon. Und wenn wir sagen, dass wir die Gesellschaft verbessern wollen, müssen wir bei der Bildung anfangen, in einem Alter, wo Menschen noch formbarer sind als Erwachsene. Da müssen wir ein gutes Fundament gießen. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 21.5.2013)