Norbert Kettner: "Wien verbindet nordeuropäische Effizienz mit südeuropäischem Lebensstil."

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Grafik: Der Standard

STANDARD: Wien hat sich in London kürzlich spektakulär mit einer Walzer tanzenden Akrobatencrew auf einer Hochhauswand präsentiert. Alles sehr modern, aber ohne Walzer geht es offenbar nicht. Wieso?

Kettner: Wir sind der Schaufensterdekorateur der Stadt. Wir stellen in die Auslage, was das Publikum international mit Wien verbindet. Unsere Aufgabe ist es, das Publikum in den Laden reinzubringen, und drinnen ist dann eine Vielfalt an Dingen. Walzer, ja, das ist wichtig. Aber wir haben jetzt auch eine Kooperation mit der Art Basel, wo wir die zeit­genössischen Facetten Wiens beleuchten, die ohne Diversität nicht funktionieren würden.

STANDARD: Welche Wien-Stereo­type lieben Touristen am meisten?

Kettner: Imperiales Erbe, Kunst- und Kulturleben auf dem Niveau von Paris und London. Dann unser Savoir-vivre. Wien verbindet nordeuropäische Effizienz mit südeuropäischem Lebensstil. Es gibt in Europa keine andere Millionenstadt, nach der eine Küche benannt ist, keine, in der Wein angebaut wird. Und die Kaffeehauskultur noch dazu.

STANDARD: Warum wird Multikulturalität nicht offensiver beworben?

Kettner: Wien-Tourismus tut das sehr wohl. Wenn es bei einer Präsentation etwa um "Wien um 1900" geht, sage ich immer: Wien war die fünftgrößte Stadt der Welt, und nur 50 Prozent der Bevölkerung haben Deutsch geredet. Mittlerweile wird vorausgesetzt, dass Städte vielfältig und multikulturell sind. Das gehört zur DNA ei­ner Stadt. Dass wir dauernd die Selbstviktimisierung bei diesem Thema betreiben und überall nur Probleme sehen, ist kontraproduktiv. Dann wird die Folklore gepflegt, wir seien kein Einwanderungsland – was nicht stimmt.

STANDARD: Veranstalten Sie auch "Multikulti-Touren"  durch Wien?

Kettner: Wir nicht, aber viele Fremdenführer bieten das an. Es ist ein Nischenprogramm. Wenn man das erste Mal nach Wien kommt, schaut man natürlich die Highlights im ersten Bezirk und in Schönbrunn an. Mittlerweile stellen wir aber auch die "neighbourhoods"  in den Fokus, weil wir das praktische Problem haben, dass sich die Touristen in der City ballen. Und da steuern wir ein bisschen gegen, indem wir Reisejournalisten etwa auch den siebten oder den zweiten Bezirk zeigen. Wir versuchen da bei der Sujetauswahl, ein wenig multikultureller zu sein. Es soll aber auch nicht aufgesetzt wirken.

STANDARD: Wie modern darf Wien in touristischer Vermarktung sein?

Kettner: Je weiter entfernt, umso tiefer müssen wir in den Klischeetopf greifen. Aber das Klischee wird immer in einer zeitgemäßen Form präsentiert. Wir plädieren sehr für den entspannten Umgang mit Historie und Gegenwart.

STANDARD: Die Stadt veranstaltet Wienbälle quer über den Erdball. Funktioniert das immer noch?

Kettner: Wiener Bälle und die Ballsaison, damit kann jeder Mensch ­etwas anfangen. Es transportiert ein Bild von Eleganz und Märchen - mit dem Vorteil, dass man das in Wien wirklich erleben kann. Es ist also ­gelebtes und gelerntes Klischee.

STANDARD: Auf welches Wien-Klischee könnten Sie verzichten?

Kettner: Ich finde diese Gemütlichkeit schwierig. Im Englischen gibt es nicht einmal eine korrekte Übersetzung. Dieses Gemütlich-Klischee hat den Subtext von Behäbigkeit. Die Stadt ist aber nicht behäbig. Da halte ich es mit Karl Kraus: "Gemütlich bin ich selber". Ich will nicht in einer gemütlichen Stadt leben. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 18./19./20.5.2013)