"Es wurde bis in die 90er- und 2000er-Jahre perpetuiert, dass Österreich kein Zuwanderungsland sei. Und genau so agiert die staatliche Politik."

Foto:privat

STANDARD-Schwerpunktausgabe "Kulturelle Vielfalt"

Foto:standard/hoefinger

STANDARD: 1880 waren 42,8 Prozent der Wiener außerhalb des heutigen Österreich geboren, fast doppelt so viel wie jetzt. Ist denn irgendetwas übriggeblieben vom einstigen Schmelztiegel Wien?

John: Geblieben sind eine Menge einschlägiger Namen. Mitte der 1960er-Jahre gab es eine Erhebung der Hauptmieternamen. Mehr als 25 Prozent hatten tschechische Namen. Man denke nur an Finanzminister Ferdinand Lacina, auf Deutsch der Billige, den ÖVP-Politiker Erhard Busek, wahrscheinlich abzuleiten von Bucek, das Dickerchen, dann Minister Karl Sekanina, das Wort bedeutet Faschiertes, oder der ehemalige Wiener Polizeipräsident Josef Holaubek, das Täubchen. Man schmunzelt, aber wenn man sich die Regierungen Kreisky und Vranizky ansieht, kann man 50 Prozent slawische Namensträger finden.

STANDARD: Was bedeutet das?

John: Das bedeutet Massenassimilation - und teilweise eine republikanische Erfolgsstory. Eine direkte Linie von der Habsburgermonarchie zu heute gibt es nur in Zusammenhang mit den Volksgruppen. Autochthone Tschechen, Slowaken, Ungarn, Slowenen, Kroaten und Roma haben einen eigenen Status. Andere Minderheitengruppen, die durchaus auch schon lange Zeit in Österreich leben, haben diesen Status nicht. In der letzten Sprachenzählung von 2001 haben 25 Prozent der Wiener Wohnbevölkerung eine nichtdeutsche Umgangssprache angegeben - zur Zeit der Monarchie waren es zehn Prozent. Von den 25 Prozent sprechen 59 Prozent eine Sprache aus Ex-Jugoslawien, 18 Prozent Türkisch, sieben Prozent Englisch, drei Prozent Arabisch. Tschechisch ist auf einer Ebene mit Persisch und Chinesisch. Sprachlich blieb also nicht viel.

STANDARD: Warum definiert sich Österreich noch immer über Relikte aus dem Vielvölkerstaat wie Essen, Lipizzaner und Habsburger, bezieht aber aktuelle Minderheiten kaum ein?

John: Aus meiner Sicht gibt es einen Bruch im Verständnis dessen, was Österreich ist, zuerst nach dem Ersten Weltkrieg, einen weiteren während der NS-Zeit. Nach 1945 gab es wieder einen Bruch und eine Phase der Orientierungslosigkeit. Ab den 1970er- und 1980er-Jahren herrschte ein sehr isoliertes Verständnis von Österreich vor, nämlich dass Österreich nicht das Einwanderungsland sei, das es von der Statistik her ist. Der Anteil von Personen, die außerhalb des Landes geboren wurden, ist mit 15,5 Prozent höher als in dem klassischen Einwanderungsland USA mit etwa 13 Prozent. Insbesondere in den 80er-Jahren gibt es in der Politik einen Tabubruch. Mit Jörg Haider, der 1986 FPÖ-Parteivorsitzender wurde, kam das "Ausländer"-Thema in den Wahlkampf.

STANDARD: Vorher war Migration kein Thema?

John: Nach 1945 waren Antisemitismus und auch Ausländerfeindlichkeit offiziell quasi "verboten". Mit dem Tabubruch von 1986 wird es effektiv zum politischen Thema und zu einem Thema, mit dem man Stimmen gewinnen kann, und entscheidend in die Politik eingreifen kann. Es wurde bis in die 90er- und 2000er-Jahre perpetuiert, dass Österreich kein Zuwanderungsland sei. Und genau so agiert die staatliche Politik.

STANDARD: Warum ignoriert die Politik das und knüpft nicht an vergangene Migrationsströme an?

John: In Wiener Bezirken wie Favoriten oder Simmering waren 1910 zwei Drittel bis zu drei Viertel Zuwanderer, vor allem aus Böhmen und Mähren. Genau in diesen Bezirken hat die Partei, die sich gegen Zuwanderung ausspricht, die FPÖ, mit bis zu 35 Prozent mit Abstand den höchsten Zulauf. Assimilierte und nachfolgende Generationen sind nicht automatisch für neue Zuwanderung, ganz im Gegenteil. Die Kultursoziologen Norbert Elias und John L. Scotson konnten schon in ihrer Studie Die Etablierten und die Außenseiter nachweisen, dass Haltungen stark vom Zeitpunkt der Ankunft abhängig sind. Auch in meinen Interviews habe ich oft gehört: Der Großvater kam aus Tschechien, das ist grad vor der Haustür, er hat sich brav angepasst, wir sind anständige Österreicher.

STANDARD: Deutsch zu sprechen ist heute ausschlaggebend für Integration. War das schon immer so?

John: Nein, die Sprachkomponente wurde über lange Zeit wenig betont. Es gab auch keine Verpflichtung für Migranten oder Arbeiter, Deutsch zu sprechen. In der Phase, als Österreich das Beitrittsansuchen zur Europäischen Union gestellt hatte, also unter Bundeskanzler Franz Vranitzky, waren die Engländer und Franzosen skeptisch in Hinblick auf einen "deutschen Block". Damals hat die Bundesregierung die Volksgruppensituation hervorgehoben und Österreich in keiner Weise als deutschen Staat stilisiert. Das hat sich massiv verändert. Das Thema war, wie sich bei der Nationalratswahl 1999 gezeigt hat, entscheidend, wer Bundeskanzler wird. Ich denke, dass sich mit dem Thema Migration unter Umständen zehn bis 15 Prozent mobilisieren lassen und damit Wahllandschaften komplett umgestellt werden können. Diese Klientel ist dann auch zu bedienen, und das wird sie auch.

STANDARD: Heute versucht man doch, sich weltoffen zu geben?

John: Es gibt Bemühungen, aber wenn Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz mit Verweis auf Kanada plädiert, es bräuchte eine Willkommenskultur, ist das entweder ein Lippenbekenntnis, oder er kann sich nicht durchsetzen. Denn es ist klar: Jeder Schritt in diese Richtung wird politisch beantwortet in Wahlkämpfen. Insofern verstehe ich die Situation auf dem politischen Parkett.

STANDARD: Spielt das Migrationsthema bei Landtagswahlen auch so eine große Rolle?

John: Es ist nicht durchgängig, es gibt immer wieder Phasen, wo die Wahlmotive von anderen Themen überlagert werden, wie man in Tirol und Salzburg gesehen hat. Bei den letzten Wien-Wahlen hat das Thema sehr wohl eine Rolle gespielt. Das erwarte ich auch in Zukunft, denn die Migration nimmt weltweit zu. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 18./19./20.5.2013)