Für den Autor Michael Stavarič war es "stets unbegreiflich, dass die in Österreich lebenden Volksgruppen und Minderheite als "Bürde" und "Last" empfunden werden, wo sie doch eine Bereicherung der nationalen Identität darstellen".

Foto: Heribert Corn
Grafik: Der Standard

Unlängst war ich anlässlich einer Lesereise in einem Hotel untergebracht, das in seinen Zimmern alte Zeitungen platziert hatte. In meinem Fall war dies die Ausgabe der "Oberösterreichischen Nachrichten" vom 11. August 1983, die große Schlagzeile lautete: "Sowjetische Wissenschafter wollen die heilige Kuh Planwirtschaft schlachten". Die Zeitung räumte diesem Vorhaben eher wenig Chancen ein, doch wurde recht ausführlich über irgendwelche sibirischen Wissenschafter berichtet, die "eine Entbürokratisierung des aufgeblähten Verwaltungsapparates" propagierten (das kommt einem in Österreich doch irgendwie bekannt vor?). Des Weiteren kam auf der Titelseite der neue sowjetische Innenminister zu Wort (ein Herr Fedortschuk), der bekanntgab, dass Ministerium und Polizei von in ideeller und moralischer Hinsicht unreifen Leuten gesäubert worden seien.

Ein Artikel gleich daneben beschäftigt sich mit Kärnten, die Schlagzeile lautet: "Slowenenfrage in Kärnten wieder auf Konfrontationskurs". Und in weiterer Folge: "... in der Kärntner Minderheitenfrage stauen sich wieder einmal die Emotionen. Die Slowenenorganisationen werfen den Kärntner Landtagsparteien (SP, VP und FP) geringes Verständnis für die Anliegen der slowenischen Volksgruppe vor und sprechen von einer Verschlechterung der Situation. Hoffnung setzt man auf die neue Regierung, weil die Lösung der Minderheitenfrage ausdrücklich in die Regierungserklärung aufgenommen worden sei. Man wirft den Politikern vor, dass die zweisprachigen Ortstafeln in vielen Orten noch immer nicht realisiert sind, die Verwendung von Slowenisch als Amtssprache auf Schwierigkeiten stoße ..."

Mir war es stets unbegreiflich, dass die in Österreich lebenden Volksgruppen und Minderheiten - fast schon traditionell - als "Bürde" und "Last" empfunden werden, wo sie doch eine Bereicherung der nationalen Identität darstellen. Nach meinem Empfinden ist etwa "Mehrsprachigkeit" heutzutage die Bedingung eines, ich nenne es mal, "mündigen Seins"; kulturelle Vielfalt und "mündiges Sein" (also Haltung) bedingen einander geradezu.

Der Philosoph Erich Fromm wiederum hat schon vor längerem festgehalten, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich vollständig dem Besitz und Profitstreben verschrieben hat. Deshalb sehen wir auch selten ein Beispiel für die "Existenzweise des Seins", weil sich die meisten Menschen an der "Existenzweise des Habens" orientieren. Das "Sein", demnach etwa Erfahrungen, Begegnungen, Gespräche etc. als den wertvolleren Anteil unseres Lebens zu erachten, diese Haltung ging längst verloren. Der Besitz und die Gier nach noch mehr Besitz (also auch Macht!) sind allgegenwärtig.

Dies äußert sich - meines Erachtens - längst auch in jenen an sich dem "Sein" zugehörigen Dingen, also etwa (politischen) Gesprächen. Jeder kennt die Ansichten des anderen, doch keiner denkt daran. die eigene Meinung zu ändern. Warum? Man fürchtet sich davor, von der eigenen Meinung abzuweichen, weil diese schließlich zum "Besitz" gezählt wird. Oder ein weiteres Beispiel - die (politische) Autorität ... besitzt man Autorität? Oder ist man schlicht eine? Für mich ist die Autorität, die auf der Existenzweise des Seins beruht, zugleich die Persönlichkeit eines Menschen, der ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Integration erreicht hat. Die Autorität des Seins ist eine, die ohne Befehle und Bedrohlichkeiten auskommt; während sich der "Habenmensch" auf das verlässt, was er hat, vertraut der "Seinsmensch" auf das, was er ist.

Was sind wir aber? Wir sind, wenn Sie mich fragen, in erster Linie "kulturell vielfältig" - und schlimm wäre eine Welt, die sich dem Diktat irgendeiner nationalen Einheit und Gleichförmigkeit unterwerfen müsste. Ich frage mich: Was ist so schlimm daran, dass wir alle aus verschiedenen "Kulturen" stammen? Uns verschieden kleiden oder unterschiedliche Sprachen sprechen? Und wovor fürchten sich österreichische Politiker? Meine Antwort: davor, ihren "Besitz" zu verlieren, ihre Wählerstimmen und alles Weitere, was noch dranhängt. Und wovor fürchten sich die österreichischen Wählerinnen und Wähler? Ja genau, sie sorgen sich um ihren Besitz, ihre Häuschen, Grundstücke und Sparbücher. Und was wünschen sie sich? Noch mehr Häuschen, Grundstücke und Sparbücher etc., etc. Ist diese "Habengesellschaft" tatsächlich eine, die wir wollen?

Vielleicht sollte man an vielen Orten alte Zeitungen mit ihren Schlagzeilen deponieren - sie regen das Denken an und führen einem vor Augen, wie wenig sich an etlichen Ecken und Enden der Welt getan hat. Und wie paradox politisches Handeln oft genug ist, wie verbohrt und egomanisch die Menschen sind und was das alles für Gesellschaften bedeutet.

Ach ja, die Sowjetunion ist mittlerweile zerfallen, die Planwirtschaft ist längst Geschichte, ein ganzes System hat sich gewandelt - ob zum Besseren, vermag ich im Gesamten nicht zu beurteilen. Jedenfalls führen wieder neue "Habenmenschen" das Zepter. Und in Kärnten? Schlussendlich ging der Zerfall der Sowjetunion schneller vonstatten als politische Veränderungen vor Ort. Das zeugt, gelinde gesagt, von einer unglaublichen Borniertheit und materiellen Verkommenheit. Es ist allerhöchste Zeit, dass Kärnten seine kulturelle Vielfalt annimmt, sie ist ein Geschenk, keine Bürde. Und ein jeder von uns wäre gut beraten, sein Streben nach Besitz kritisch zu hinterfragen. Wäre es nicht besser, in einem Land zu leben, wo die Menschen stolzer auf ihre Mehrsprachigkeit sind denn auf ihre drei Autos und zwei Eigentumswohnungen? (Michael Stavarič, DER STANDARD, 18./19./20.5.2013)