Michael Buchleitner hat ein Credo. Vielleicht ist es ja auch ein Mantra. Zumindest für die, denen Buchleitner diesen einen Satz ins Ohr setzt. Mantras braucht man auf der Langstrecke. Zumindest helfen sie. Spätestens ab dem Moment, wo der "Mann mit dem Hammer" sich von hinten angeschlichen hat - und einem mit der fetten Keule eins überbrät. Ob das bei Kilometer 32 passiert oder schon viel, viel früher - mitunter schon beim ersten Trainingslauf - spielt keine Rolle: "Wieso tust du dir das überhaupt an?" ist die nur zum Schein als Frage camouflierte Botschaft, die auf der Keule (oder dem Hammer) steht. Und die einzige gültige Antwort "weil ich es will" braucht Unterstützung. Nicht erst bei Kilometer 32. Auch wenn das Wetter schlecht ist. Oder die Couch wieder besonders weich.

Denn während der Mann mit dem Hammer da wieder und wieder ausholt (und jedes Mal trifft), während der Blick beim Vorbeilaufen auf das Hotel fällt, in dem nicht nur ein Bett und eine Dusche, sondern auch ein Pool und eine Liegestuhl warten, während die Beine sich anschicken, dem Blick zu folgen - kämpft dieses "weil ich es will" einen harten Kampf. Es fleht um Hilfe. Und die kommt - von unerwarteter Seite: Plötzlich ist Buchleitners Satz wieder da. Jener Satz, den er Wochen, ja Monate zuvor, bei der ersten Besprechung, das erste Mal fallen gelassen hat.

"Jeder, der drei Stunden spazieren gehen kann", hat der Ex-Olympionike, Staatsmeister, Laufcoach und TV-Kommentator da gesagt, "schafft auch einen Marathon." Ich kann drei Stunden spazieren gehen. Das weiß ich. Sogar jetzt noch - bei Kilometer 32. Wo ich sonst eigentlich nix mehr weiß. Aber die Beine machen weiter. Noch zehn Kilometer.

Alle laufen bis heute

Das war vergangenen Oktober. In Palma. Buchleitners Satz fiel aber früher. Monate früher: Der Veranstalter des Mallorca-Marathons hatte den Laufprofi engagiert, eine Journalistengruppe marathonfit zu machen. Normalerweise dauern Pressereisen drei oder vier Tage - und man wird mit der Sänfte bis aufs Klo getragen. Auf diesem Trip wurde niemand getragen. Im Gegenteil. Und er dauerte länger. Viel länger. Auch für jene, die vorher alles andere als Lauffreaks waren: Sie alle laufen. Bis heute.

Buchleitners Satz war aber länger. Das, worauf es ankommt, hatte der Coach hinter der Catchphrase versteckt: "man muss sich nur genügend Zeit lassen" hatte die zweite Hälfte gelautet. Und auch wenn das am Anfang keiner kapierte: Das war die Kernbotschaft. Und ist sie immer noch.

Denn es ging - und geht - darum, zu verstehen, worum es wirklich geht. Oder genauer: Worum es nicht geht: Um Tempo nämlich. Um Geschwindigkeit. Um Zahlen und Zeiten. Klar: Irgendwo läuft eine Uhr. Und irgendwer fragt auch immer, wie schnell man denn sein will. Oder wie lange man brauchen will.

Irgendwer ist immer schneller

Bloß: Das ist egal. Denn irgendwer ist immer schneller. Unabhängig davon, ob man nun einen, fünf, zehn oder 42 Kilometer läuft. Natürlich macht es Spaß, sich zu messen. Zu verbessern. Zu steigern. Aber der erste Gegner ist nie der, der einen gerade überholt - sondern immer nur man selbst: "Wer drei Stunden spazieren gehen kann", hatte Buchleitern gesagt, "der schafft auch einen Marathon. Man muss sich nur genügend Zeit lassen."

Es dauerte, bis der Satz sickerte - und saß. Anfangs war das schwer: Bei den ersten Leistungschecks schnaufte eine Dame, die zugab (und der man auch ansah), dass sie seit ihrer Schulzeit kaum Sport getrieben hatte mit allerletzter Kraft über die 400-Meter-Laufstrecke. Über neun Minuten brauchte sie für einen Kilometer - und war stolz auf ihre Leistung. Bis sie Buchleitner nach seinen Kilometerzeiten fragte. Bloß: Cui bono? Wer käme auf die Idee, das eigene Semesterferien-Only-Skifahren allen Ernstes mit Hermann Maiers besten Abfahrtszeiten zu vergleichen?

Die Kollegin schluckte - und hängte sich rein. "Man muss sich nur genügend Zeit geben" galt auch für sie: In Palma war sie dabei. Nicht auf der Volldistanz. Nicht auf der Halbmarathonstrecke - aber auf den zehn Kilometern. Und am Abend, nach dem Lauf, musste man weder ihr noch sonst wem erklären, dass Zahlen und Zeiten vollkommen egal sind: Ihr Grinsen war mindestens so glücklich, wie das all jener, die da die volle Distanz geschafft hatten. Vielleicht sogar glücklicher: Der Gegner, gegen den sie angetreten war, hatte weit übermächtiger gewirkt, als die Ängste und Dämonen, die die anderen in der Gruppe besiegt hatten.

Heuer im Frühjahr, beim Vienna City Marathon, war sie dann in einer Staffel dabei gewesen. Über 16 Kilometer. Diesen Herbst will sie in der Wachau den Halbmarathon schaffen. "Und irgendwann, vielleicht, ja sogar einen  Marathon."

Fragen an Buchleitner, sagt sie, habe sie jede Menge. Heute noch mehr als vor einem Jahr. Aber eine stellt sie nicht mehr. Weil die keine Rolle mehr spielt: Die nach der Zeit oder dem Tempo. Darum geht es nicht. Nicht, wenn man den Satz verstanden hat, der alle Zahlen ausradiert: "Man muss sich nur genügend Zeit lassen." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 15.5.2013)