Lauren Kessler sieht den Umgang mit Quellen ganz pragmatisch: "Sie können entweder einen Psychiater bezahlen oder es gratis einem Journalisten erzählen."

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Lauren Kessler ist es wichtig, als ethisch integrer Mensch zu agieren. Die amerikanische Journalistin hält Informationen aus Empathie gegenüber ihren Interviewpartnern zurück und gehört trotzdem zur amerikanischen Elite der Non-Fiction-Literaten, die sich mit zeitgeschichtlichen Themen wie Teenagern, Euthanasie oder Alzheimer auseinandersetzen. Im Gespräch mit derStandard.at erklärte sie ihre Techniken zum Erzählen einer fesselnden Geschichte, ihre ethischen Grundsätze und erzählte Anekdoten über ihre Auftritte in der David-Letterman-Show.

derStandard.at: Sie sind auf narrative Non-Fiction spezialisiert. Wie pirschen Sie sich an ein Thema heran?

Lauren Kessler: Die Geschichte ist ein Ozean und ich muss einfach hineinspringen. Zuerst vertiefe ich mich in das Material, das bereits existiert und hoffe dadurch schlauer zu werden. Schließlich komme ich an einen Punkt, an dem sich die Dinge wiederholen, dann bin ich bereit selbst los zu starten. Währenddessen suche ich nach Wegen, die Geschichte zu erzählen.

derStandard.at: Funktioniert diese Herangehensweise für alle Themen?

Kessler: Ich glaube an personengetriebene Erzählungen. Wenn es sich nun um ein kompliziertes Umweltthema handelt, sagen wir Verschmutzung durch eine Fabrik, dann ist es in meinem Interesse, einen Menschen zu finden, der mich auf eine Reise mitnimmt, die es mir erlaubt, den größeren Zusammenhang darzustellen. Menschen wollen über Menschen lesen. Sobald sich die Leser für den Menschen interessieren, nehmen sie auch Anteil an seinem Schicksal und dem größeren Problem.

derStandard.at: Ist es schwierig solche Charaktere zu finden?

Kessler: Die Suche nach dem richtigen Geschichtenvehikel kann sehr herausfordernd sein. Aber die Überzeugungsarbeit an den Menschen, dich über ihr Leben schreiben zu lassen, ist leichter als man glaubt. Die Leute hungern danach, über ihr Leben zu sprechen und dem Leben damit einen Sinn zu geben. Sie können entweder einen Psychiater bezahlen oder es gratis einem Journalisten erzählen.

derStandard.at: Haben Sie ein Beispiel?

Kessler: Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem Artikel über Sterbehilfe. Der Titel war "Tod in zwei Akten". In Oregon ist Euthanasie erlaubt, in Kalifornien verboten. Da mischen viele Faktoren mit: Religion, Pharmaindustrie und Politik. Ich musste einen Weg finden, diese Geschichte zu erzählen. Ich suchte also zwei Menschen am Ende ihres Lebens. Eine Person mit der Möglichkeit, einen würdevollen selbst gewählten Tod zu sterben und eine andere, die mit dem Verbot leben muss und möglicherweise gezwungen ist, sich illegal fünf verschiedene Medikamente aus fünf verschiedenen Apotheken zu besorgen, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Ich habe sechs Monate gebraucht, um die beiden zu finden, aber ihre Zusage zur Geschichte hatte ich innerhalb einer Minute.

derStandard.at: Woher kommt die schnelle Zustimmung?

Kessler: Einerseits bin ich vertrauenswürdig, andererseits wollten sie ihrem Tod Bedeutung verleihen. Der Mann in Kalifornien wollte durch die Darstellung seiner letzten sechs Monate mithelfen, die politische Einstellung zum "Tod mit Würde" zu beeinflussen. Sie haben nicht aufgrund meiner bisherigen Arbeit "Ja" gesagt, sondern weil sie fesselnde Geschichten zu erzählen hatten.

derStandard.at: Ziehen Sie bei so tragischen Themen emotionale Grenzen zu ihren Protagonisten wie etwa Ärzte bei ihrer Arbeit mit todkranken Menschen?

Kessler: Ich nehme die Sorgen mit nach Hause, arbeite dort mit ihnen und daraus entsteht der Text. Ich empfinde mich in einer privilegierten Position, in das Leben eines Menschen eintauchen zu können und ihre Geschichten zu erzählen. Ich nehme die Verantwortung sehr ernst. Ich hänge emotional an meinen Protagonisten und meiner Geschichte und ich weiß nicht, wie ich ohne das schreiben sollte. Es gibt für mich keine Wahl.

derStandard.at: Bei so einem Näheverhältnis passiert es sicher, dass Menschen intime Geheimnisse ausplaudern.

Kessler: Ich will, dass die Menschen verstehen, dass ich eine Schreiberin in ihrem Leben bin. Manchmal erzählen sie mir trotz der offensichtlichen Interviewsituation Geheimnisse, von denen ich weiß, dass sie diese später nicht lesen wollen. Das schreibe ich dann nicht.

derStandard.at: Sie setzen also eigene ethischen Grenzen.

Kessler: Ja, ich setze ethische Grenzen, aber keine emotionalen. Journalisten haben viele Verpflichtungen. Gegenüber dem Verleger, den Kollegen, der Geschichte, den Protagonisten und gegenüber sich selbst. Ich werde also keine Entscheidung treffen, für die ich mich am nächsten Morgen hasse. Das menschliche Wesen kommt zuerst, nicht die Journalistin. Manchmal schreibe ich nicht die beste Geschichte, die ich schreiben könnte, weil ich intime Informationen nicht verwenden will. Eine Journalistin zu sein übertrumpft nicht ein Mensch zu sein.

derStandard.at: Wurden Ihnen diese ethischen Grundsätze in der Ausbildung vermittelt?

Kessler: Nein, es gibt zwar Ethik-Kurse an journalistischen Instituten, aber ich habe nie einen besucht. Meine Urgroßmutter kommt aus Italien und ich habe mitbekommen, dass man Dinge in der Familie behält. Außerdem lernt man aus den Situationen, in denen man sich sagt: Ich habe die Wahl. Man versetzt sich in die Person hinein und zeigt Empathie.

derStandard.at: Verwenden Sie neue Medien um Ihre Geschichten zu erzählen?

Kessler: Ich bin in erster Linie eine Schriftstellerin. Ich denke auch visuell, deshalb fotografiere ich. Obwohl Teile meiner fotografischen Arbeit veröffentlicht wurden, dienen sie mir eigentlich als Hilfe für meine journalistische Arbeit, um Szenen nachzuempfinden. Außerdem habe ich zwei Blogs und eine brandneue digitale Spiegelreflexkamera. Ich betreue ein Film-Praxis-Projekt, das im Rahmen des neuen Multimedia-Narrative-Journalism Lehrgangs an unserer Universität angeboten wird. Wir leiten den Lehrgang zu dritt: Ein Radiomacher von National Public Radio, ein Videomacher und ich. Wir wollen den Studenten zeigen, welches Werkzeug für welche Geschichte am besten funktioniert.

derStandard.at: Junge Menschen konsumieren Journalismus oft nur mehr audiovisuell. Glauben Sie an die Zukunft des geschriebenen Wortes?

Kessler: Ich glaube daran. Vielleicht wollen junge Menschen keine Nachrichten im Internet lesen, aber das heißt nicht, dass sie nichts anderes interessiert. Außerdem ist es doch so: Früher war Schreiben für viele Menschen kein integraler Bestandteil ihres Lebens. Meine Tochter hingegen kommuniziert den ganzen in Tag in vollständigen Sätzen über SMS oder Internet mit ihren Freunden. Etwas, das ich nie getan habe, obwohl ich eine geborene Schreiberin war. Ich bin optimistisch, dass das geschriebene Wort nicht aussterben wird.

derStandard.at: Sie waren bereits zweimal als Gast bei David Letterman in New York eingeladen. Wie war's beim erfolgreichsten Late-Night-Talker der Welt?

Kessler: Ich sitze in meinem kleinen Haus in einem vergessenen Teil der Welt und plötzlich klingelt das Telefon und ein Mann sagt: "Ich bin ein Produzent von David Letterman und er will sie in seiner Show haben." Meine Mann und ich wurden wie Hollywood-Stars nach New York eingeflogen. Das Interessante an der Show war letztlich nicht mein Interview, sondern die Pausen dazwischen. Sobald die Kameras ausgingen, kamen drei Assistenten zu ihm gelaufen, er unterschrieb Verträge und sagte Sachen wie "Setzen sie meine Anwälte darauf an!". Er ist offensichtlich ein Geschäftsmann, der dieses Imperium selbst in den Werbepausen weiter dirigiert. Er war sehr zugeknöpft, bis die Kameras wieder angingen und die Show von vorne begann. Ich realisierte, dass jeder Celebrity auch eine sehr ernste Geschäftsseite rund um die öffentliche Person zu bewältigen hat. Das ist etwas, das ich nicht möchte. Ich will ich selbst sein, auch als Journalistin. (Tatjana Rauth, derStandard.at, 16.5.2013)