Google Glass in der "Explorer Edition".

 

Foto: Google
Foto: Google

Ob zu Recht oder zu Unrecht, ist wie so oft eine Frage der Perspektive, eines ist aber klar: Googles Datenbrille Glass hat zuletzt einiges an Staub aufgewirbelt. Obwohl eine Veröffentlichung für den Consumer-Markt noch fern ist, meinen viele bereits ihr endgültiges Urteil gefällt zu haben - zwischen Begeisterung in Robert Scobelischen Proportionen und prinzipieller Verteufelung liegt hier die Bandbreite.

Zielsetzung

Dies obwohl Google nicht müde wird zu betonen, dass es sich bei der seit kurzem an ausgewählte Personen gelieferten "Explorer Edition" um einen Prototypen handelt, mit dem man vor allem zweierlei vorhat: EntwicklerInnen für die neue Plattform zu gewinnen, und Erfahrungen für eine spätere Consumer-Release zu sammeln.

Erster Eindruck

Unter diesen Voraussetzungen konnte der WebStandard im Vorfeld der Google I/O 2013 nun auch zum ersten Mal selbst "Glass" ausprobieren und erste Eindrücke sammeln. Diese sind im Folgenden verschriftlicht, das aber nicht ohne zuvor einen fetten...

Disclaimer

...voranzustellen: Der Autor konnte das Gerät nur für eine relativ kurze Periode (ca. 15 Minuten) ausprobieren. Dies reicht zwar, um sich einen Eindruck der grundlegenden Funktionalität zu verschaffen, von einer Alltagsnutzung ist dies allerdings weit entfernt. Insofern ist dieser Text explizit nicht als Test zu verstehen, solch einer kann seriöserweise nie in einer solchen Geschwindigkeit vorgenommen werden. Entsprechend sollen im Folgenden auch die subjektiven Eindrücke im Vordergrund stehen, technische Details und weiterführende Information zur Software bleiben hingegen einem etwaigen Test zu einem späteren Zeitpunkt vorbehalten.

Look

Der erste Eindruck: Auf den Produktfotos von Google sieht die "Explorer Edition" - wenig überraschend -  etwas besser als in der Realität aus, wobei der Plastik-Look allerdings je nach Farbausführung unterschiedlich stark zur Geltung kommt. Die optionalen Sonnenbrillengläser federn diesen Eindruck zwar ein bisschen ab, trotzdem: Wenn Google will, dass auch die breite Masse seine Datenbrille aufsetzt, wird man am Design feilen müssen. Dass man sich dessen durchaus bewusst ist, hat Google bereits durchklingen lassen. Außerdem darf bei so einer Beurteilung nicht der Prototyp-Status der "Explorer Edition" vergessen werden. Bei der Verarbeitung gibt es hingegen schon jetzt nichts auszusetzen, auch beim ersten Aufsetzen gab es keinerlei Beschwerden. "Glass" passte einfach, musste auch nicht speziell adjustiert werden.

Aha!

Beim Aktivieren folgt dann einer jener "Aha-Momente", wie sie nur beim ersten Ausprobieren einer völlig neuen Produkttype, wie es Glass nunmal ist, zu haben sind. Durch ein leichtes Kippen des Kopfes nach hinten weiß Glass, dass sein Auftritt gefordert ist, und es wird ein leicht transparentes Display über das Sichtfeld geblendet. Der Autor hatte dabei keinerlei Probleme auf dieses zu fokussieren, allerdings gibt es BrillenträgerInnen, die sehr wohl von diesbezüglichen Schwierigkeiten berichten. Im Gespräch mit anderen Google-Glass-NutzerInnen stellt sich wiederum heraus, dass diese Schwierigkeiten offenbar längst nicht alle NutzerInnen mit optischen Gläsern betreffen.

Auffällig

Was bei der Nutzung schnell auffällt: Um die von Glass gelieferten Informationen wirklich gut lesen zu können, muss man nicht nur leicht nach oben schauen, sondern auch den Blick gezielt fokussieren. Dem Gegenüber fällt dieser Umstand somit umgehend auf, es wirkt so als würde eine Glass-Trägerin durch einen "durchschauen", während sie Informationen liest. Auch sonst bleibt die aktive Glass-Nutzung nicht lange umbemerkt, ist diese doch klar als heller Punkt auf dem zur Informationsprojektion genutzten Prisma zu erkennen. Wer nahe genug rangeht, kann hier sogar Bilder und Texte erkennen.

Ablenkung? Eher schon.

Angesichts dessen, dass der Blick fokussiert werden muss, stellt sich aber natürlich noch eine andere Frage, die in der Kritik immer wieder aufgeworfen wird: Wie sehr lenkt Glass bei Aktivitäten wie Autofahren vom eigentlichen Geschehen ab. Zumindest anhand der kurzen Testphase würde die Antwort lauten: Durchaus stark, wird dabei doch unweigerlich der Aufmerksamkeitsfokus verlagert. Freilich könnte dies auch eine Gewöhnungssache sein, andere Glass-NutzerInnen haben die Nachrichten nicht als gleichermaßen invasiv beschrieben, wie es der Autor subjektiv empfunden hat.

Sprachsteuerung: Top.

Nichts auszusetzen gibt es an der - englischsprachigen -  Sprachsteuerung, diese funktioniert in einer Geschwindigkeit und Präzision, zu der man Google nur gratulieren kann. Nur ein Beispiel: Durch den Befehl "Ok, Glass" wird der Datenbrille das Folgen eines Kommandos signalisiert, mit einem nachfolgenden "Take a picture" ein Foto aufgenommen. Dabei kann diese Phrase als durchgehender Satz und durchaus auch flott gesprochen werden.

Direkt

Das Aufnehmen von Fotos und Videos ist in dieser frühen Phase, in der es praktisch noch keine Dritt-Apps gibt, eine der großen Stärken von "Glass". Ob jetzt über Sprachsteuerung oder durch Berühren des Brillenrahmens, Fotos und kurze Videos - von Haus aus werden lediglich 10 Sekunden lange Clips aufgenommen - sind wesentlich flotter gemacht, als es mit einem Smartphone oder Tablet möglich wäre.

Klarstellung

Hier muss dann ein entscheidender Punkt erwähnt werden, der in der Diskussion gerne mal missverstanden wird: Natürlich ist Glass nicht die gesamte Zeit aktiv, geschweige denn nimmt es dauernd die Umgebung auf und analysiert diese. Dies ist mit aktuellen Akkutechnologien auch völlig undenkbar. Glass wäre bei so einem Ansatz innerhalb kürzester Zeit ohne "Saft".

Die eigene Paranoia

Trotzdem ist es tatsächlich etwas gewöhnungsbedürftig Personen mit Glass gegenüberzustehen. Der größtenteils irrationale Verdacht hier jetzt heimlich gefilmt zu werden, drängt sich auch wider besseren Wissens schnell mal auf. Genau diese sozialen Herausforderungen sind es, die den Erfolg der Produktklasse "Datenbrille" am Massenmarkt schlussendlich entscheiden könnten. Ist hier einmal ein schlechter Ruf entstanden, könnte es für Google - und danach folgende Anbieter - schwer werden. Google weiß dies natürlich, und begreift insofern die "Explorer Edition" auch in dieser Hinsicht als "Lernerfahrung", aus der man für eine spätere Consumer-Release Schlüsse in Hinblick auf die Privatsphäre ziehen will.

Gesten

Doch zurück zur konkreten Nutzung: Neben der Sprachsteuerung spielen Gesten eine wichtige Rolle. Mit Swipes am Rahmen lässt sich in den einzelnen Inhalten von vorne nach hinten bewegen. Derzeit sind dies vor allem Karten von Google Now, Priority-Mails von Gmail oder auch SMS. Ein Swipe nach unten kehrt zum letzten Bildschirm bzw. zum Homescreen zurück. Alles in Allem dauert die Gewöhnung an diese Art der Steuerung nur wenige Minuten und war rasch "intuitiv" verständlich.

Aussehen

Die grafische Repräsentation von Glass erinnert stark an Google Now, und setzt dabei auf Typographie und klare, simple Grafiken. Eine gelungene Wahl für solch eine Display-Form, immerhin ist die Lesbarkeit der Informationen oberstes Ziel. Trotzdem bleiben gewisse Zweifel daran, ob Glass sich auch im strahlenden Sonnenlicht noch gut nützen lässt, leider konnte dies aber nicht ausprobiert werden.

Highlights

Als echtes Highlight erweisen sich all jene Dinge, die von der eigenen Ausrichtung abhängig sind. So ist es ziemlich beeindruckend, wenn die Karte der Google Navigation mit dem eigenen Blickfeld mitdreht. Besonders nett ist aber ausgerechnet das in Glass versteckte "Easter Egg", eine Photo Sphere des "Glass"-Teams bei Google. Wenn sich diese dann mit den eigenen Kopfbewegungen mitdreht, stellt sich ein ziemlicher "Wow"-Effekt ein.

Kommt Zeit...

Seriöserweise lässt sich zu "Glass" derzeit eigentlich nur eines sagen: Wer jetzt schon ein endgültiges Urteil über die Datenbrille fällt,  redet schlicht Unsinn. Und dies nicht nur, weil es sich bei der "Explorer Edition" noch um eine Vorversion handelt, die nicht für den Massenmarkt bestimmt ist. Auch sonst ist derzeit einfach noch viel zu viel im Unklaren. Das technische Potential ist fraglos da, Erfolg oder Misserfolg von "Glass" werden aber von anderen Faktoren abhängen: Neben der noch offenen Frage der sozialen Akzeptanz werden Drittanwendungen dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Gesucht: Die Killer-App

Findet sich eine "Killeranwendung", die ganz neue Möglichkeiten eröffnet - also Dinge, die mit einem Smartphone undenkbar wären - wird das öffentliche Interesse bald in die Höhe schnellen. Bleibt eine solche aus oder wird Glass als sozial untragbar gebrandmarkt, könnte die Datenbrille allerdings auch rasch als Fußnote in die IT-Geschichte eingehen.

Zugangsbeschränkungen

Aktuell gibt es die "Explorer Edition" nur für ausgewählte Personen, die noch dazu ihren Wohnsitz in den USA haben müssen. Google führt für diese Beschränkung die komplexe Welt der regulatorischen Vorschriften an, erste Hinweise auf eine Internationalisierung finden sich allerdings schon in der aktuellen Softwareversion von Glass.

Preis

Der Preis liegt derzeit bei stolzen 1.500 US-Dollar, wobei Google allerdings bereits angedeutet hat, dass eine Consumer-Variante signifikant billiger verkauft werden würde. Diese soll aber ohnehin frühestens erst Anfang 2014 in den Handel kommen, genügend Zeit für Google die richtigen - oder auch falschen - Schlüsse zu ziehen. (Andreas Proschofsky, derStandard.at, 15.05.13)