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Im Jahr 2007 wurden Stanislav Grof und seine Frau in Prag von der Dagmar und Vaclav Havel Foundation ausgezeichnet.

Foto: EPA/Alan Pajer

Alles begann damit, dass der Prager Student Stanislav Grof unter klinischen Bedingungen eine äußerst starke Halluzination hatte. Daraus folgte eine lebenslange Beschäftigung mit der therapeutischen Wirkung von verändertem Bewusstsein. Psychiater Grof erforschte die Effekte bestimmter Atemtechniken und die Bedeutung von Geburtstraumata und vorgeburtlichen Spuren für die Behandlung psychischer Probleme und für persönliches Wachstum. Schließlich begründete er mit Kollegen wie Abraham Maslow, Ronald D. Laing und anderen eine eigene psychologische Schule.

Aus ihr gingen im deutschsprachigen Raum Arbeitskreise für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie hervor. Der österreichische Zweig, ÖATP, lud vorletzte Woche zu einem mehrtätigen Kongress nach Wien ein. Unter den Vortragenden waren Sylvester Walch aus Oberstdorf im Allgäu, der Grof in Deutschland bekannt gemacht hatte, und ÖATP-Vorsitzender Hans Peter Weidinger.

Höhepunkt und Abschluss der Tagung war ein ganzer Vormittag mit Stanislav Grof. In seiner Rede ging er auf seinen persönlichen Werdegang ein. Die Ausbildung zum Psychoanalytiker beschrieb er als mühsam – “sieben Jahre und (Freudsche Fehlleistung:) dreimal täglich” –, von ihrem Erfolg war er nicht überzeugt. Umso ergiebiger stellte sich für ihn die Arbeit mit Körpertechniken dar und die Forschung über Riten und Trancezustände in anderen Kulturen. Seine Frau habe viel mit ihm zusammengearbeitet, sie gründete 1980 das Spiritual Emergence Network, das sich mit psychospirituellem Wachstum befasst. Grof zeigte im mit rund 250 Teilnehmern übervollen Saal auch Bilder von Künstlern, die unter halluzinogenen Einflüssen zu erstaunlichen Darstellungen ihrer Innenwelt gelangten. Das Gespräch mit ihm fand am Rande der Tagung statt.

STANDARD: Sie arbeiten seit mehr als 50 Jahren als Psychiater. In der Zeit hat es eine Entwicklung Richtung  Psychopharmaka gegeben, mit der Überzeugung, dass Probleme durch die richtige Medikation zu beheben sind. Wie stehen Sie dazu?

Stanislav Grof: Es stimmt, Psychopharmakologie ist federführend. Das ist ein Problem, weil die Psychiatrie, als Teilgebiet der Medizin, vor allem symptombehandelnd vorgeht. Nun wird in der Allgemeinmedizin so vorgegangen, wenn eine Krankheit nicht mehr heilbar ist, oder als begleitende Maßnahme, um dem Patienten Schmerzen zu ersparen. Die Psychiatrie macht es aber auch, wenn sie eigentlich an die Ursachen herankommen könnte. Das ist so, als würde man einen Patienten mit hohem Fieber einfach auf Eis legen. Dann mag das Fieber vielleicht hinuntergehen, aber man weiß nicht, was wirklich das Problem ist.

STANDARD: Wie groß ist unter Ihrer Kollegenschaft die Skepsis gegenüber so einer Symptombehandlung?

Grof: Es gibt viel Kritik, aber meistens von den Paraprofessionals, den helfenden Berufen. Früher hatten wir zwei Schulen, die im Wesentlichen als gleichwertig dargestellt wurden: aufdeckende und Symptome behandelnde, also zudeckende Therapien. Diese fragen Patienten nicht, warum sie so unruhig sind, man gibt ihnen einfach Beruhigungsmittel – das ist eine ganz andere Philosophie.

STANDARD: Hatten Sie eine religiöse Erziehung hinter sich, als Sie in den Fünfzigerjahren in der CSSR zu arbeiten begannen?

Grof: Meine Mutter war sehr katholisch, meine Vater strikter Atheist. Sie wollten dann aber beide nichts mit der Kirche zu tun haben, und ich wuchs auch als Atheist auf. Dann kam ich an die Medizin-Uni, wo wir nach sowjetischem Vorbild materialistisch indoktriniert wurden. Zu spirituellen und mystischen Erfahrungen kam ich erst durch die klinische und die Laborarbeit.

STANDARD: Begann das mit LSD in Prag?

Grof: Ja. Zur Medizin war ich gekommen, weil ich Freud gelesen hatte und Psychotherapeut werden wollte. Im vierten Jahr an der Uni nahm ich als Volontär an psychedelischen Experimente teil. Der Versuchsleiter hatte von Sandoz in der Schweiz einen Posten Lysergsäurediethylamid bekommen ...

STANDARD: War das nicht ungewöhnlich, dass das Schweizer Pharmaunternehmen überall LSD-Proben hinsandte, sogar hinter den Eisernen Vorhang?

Grof: Sie haben es jedem geschickt, der dafür bezahlt hat, beziehungsweise sie schickten Proben mit anderen Medikamenten mit, zu Forschungszwecken. Mein Dozent war also an LSD interessiert, hatte aber nicht fünf, sechs oder mehr Stunden Zeit, sich mit den Probanden zu beschäftigen. Das machten wir Studenten, wir beobachteten Künstler und Psychiater, die sich der Wirkung aussetzten.

STANDARD: Hatte sich der psychedelische Effekt bereits herumgesprochen?

Grof: Die Phänomene waren seit Meskalin bekannt, mit dem man schon lange gearbeitet hatte und beobachten konnte, wie es zum Beispiel auf künstlerische Arbeit wirkte. Nach Abschluss der Studien unterzog ich mich selber einem Experiment. Mein Dozent war an EEG interessiert, vor allem an den Effekten von Lichtblitzen - ob diese die Hirntätigkeit irgendwie "treiben" konnten.

Dabei hatte ich eine unglaubliche Erfahrung: Mein Bewusstsein wurde aus meinem Körper herauskatapultiert, aus Prag, aus dem Planeten heraus. Ich war wie ausgelöscht und hatte zugleich das Gefühl, ich war die ganze Welt, alles und nichts zugleich. Als ich wieder herunterkam, hatte ich ganz seltsame astronomische Erfahrungen, für die ich damals keine Namen hatte. Erst später las ich vom Urknall, von schwarzen Löchern und so weiter – das war ungefähr auf der Ebene, auf der ich das gespürt hatte.

Als das Stroboskop dann abgedreht wurde, kam ich zurück, fand wieder Prag und meinen Körper. Aber eine Zeitlang schwebte mein Bewusstsein noch um meinen Körper herum, ich konnte die beiden nicht zusammen bringen. Und es war mir ganz klar, dass das Bewusstsein nicht nur durch das Gehirn produziert wird, sondern etwas viel Fundamentaleres ist. Das Gehirn vermittelt es nur.

STANDARD: Wie war diese Erfahrung insgesamt für Sie?

Grof: Extrem beeindruckend. Das ist inzwischen 56 Jahre her, und ich habe seither nur wenig getan, das nicht in Zusammenhang mit diesen nicht-gewöhnlichen Zuständen steht.

STANDARD: Sie sind 1967 nach Amerika gegangen und haben weiter mit LSD klinisch geforscht. Sie waren ja damals bekannt als einer der wenigen, die das durften. Was geschah dann?

Grof: Als ich, weil die Arbeit mit LSD immer komplizierter und schließlich unmöglich wurde, von Baltimore nach Esalen an der amerikanischen Westküste umzog, begann ich dort in Workshops zu experimentieren. Wir sprachen auch über die Implikationen der Arbeit mit Psychedelika, aber die Kollegen wollten lieber wissen, was wir stattdessen tun könnten. Wir kombinierten Atmen mit Musik und Körperarbeit und fanden heraus, dass man damit sehr starke Erfahrungen induzieren kann.

Es gab für sie keine präzise Bezeichnung, nur "veränderte Bewusstseinszustände" (altered states of consciousness; Anm.). Deswegen beschloss ich, einen neuen Begriff zu prägen: "holotrop", das heißt "in Richtung auf ein Ganzes". Das bedeutet, dass wir zunächst in unserer Alltagserfahrung nicht "ganz" sind.

STANDARD: Am bekanntesten ist der Begriff wohl im Zusammenhang mit Atmen geworden. Was bedeutet er da?

Grof: Holotropes Atmen kann sehr unterschiedlich praktiziert werden, für persönliches Wachstum, als spiritueller Weg, aber auch klinisch, da komme ich ja her. Wir haben Depressionen mit holotropem Atmen behandeln können, Phobien, Migräneanfälle. Ein weiteres Anwendungsgebiet sind psychosomatische Störungen, die Behebung von Schmerzen, die keine organische Ursache, sondern mit blockierter Energie zu tun haben.

STANDARD: Sie betonen auch die spirituelle Seite, etwa die Bedeutung des Atmens beim Yoga.

Grof: Solche Praktiken gibt es seit Jahrhunderten, wir haben sie nicht erfunden, vielleicht etwas vereinfacht. Jede therapeutische Lehrmeinung sagt ja etwas anderes darüber, was psychische Prozesse sind und welche Techniken man zur Behandlung braucht. Mit Atemtechniken ist es dasselbe. Es gibt viele Arten: forciertes, tiefes Atmen, oder ganz langsames. Wir haben vieles ausprobiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass man selber den besten Weg finden soll.

C. G. Jung hat darauf hingewiesen, dass bei Menschen, die in andere Bewusstseinszustände eintreten, das Unbewusste sehr nah an der Oberfläche, in Reichweite ist. Es liegt dann am Patienten selber, es zu bearbeiten. So ist es auch mit den Atemtechniken: Wir sagen den Klienten nicht, was sie tun sollen, wir schaffen lediglich einen unterstützenden Rahmen und zeigen einige Methoden, die möglich sind, um holotrope Zustände zu erreichen.

STANDARD: Wie aufwändig und kompliziert ist das Erlernen solcher Techniken, verglichen mit anderen therapeutischen Techniken?

Grof: Es ist schon aufwändig, aber kein Vergleich etwa mit Psychoanalyse. Auch holotrope Techniken brauchen Zeit. Wir haben aber auch schon erlebt, dass Klienten in ihrer ersten Atem-Sitzung bis zu ihrem Geburtserlebnis vorgedrungen sind. Oder dass der "Körperpanzer", wie Reich es genannt hat, sich löst.

STANDARD: Sie haben sich ja lange mit peri- und pränatalen Erfahrungen, das heißt solchen während und vor der Geburt, beschäftigt. Sehen Sie solche Erfahrungen beziehungsweise Erinnerungen als für jeden wichtig an oder vor allem zur Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse?

Grof: Wir sind alle sehr stark von solchen Erlebnissen geprägt, von leichten und kurzen Geburten bis zu solchen, die Tage dauern und sehr schmerzhaft sein können. Ich finde es  erstaunlich, dass die Psychiatrie dies kaum wahrnimmt.

STANDARD: Außer vielleicht Otto Rank, aber der war unter den Psychoanalytikern ein Außenseiter.

Grof: Ja, und Nandor Fodor oder M. Lietaert Peerbolte - aber auch die blieben Fußnoten.

STANDARD: Man sagt, dass das psychiatrische Establishment Ihre Forschung auf diesem Gebiet ignoriert oder zurückweist.

Grof: Das kommt darauf an. Es gibt eine seltsame Kritik an der Feststellung, dass das Geburtstrauma wichtig ist, zugleich aber betonen Kinderpsychologen und -psychiater die Wichtigkeit der postnatalen Bindungen. Mittlerweile gibt es jedoch ausführliche Forschungen über pränatale Erfahrungen. Es ist ja auch spannend zu sehen, dass man nicht einmal ein Gehirn braucht, um Erinnerungen zu haben. Eric Kandel hat den Nobelpreis dafür bekommen, dass er das Erinnerungsvermögen von Meeresschnecken erforscht hat, die kein Gehirn im menschlichen Sinn haben. Also die erinnern sich an etwas, und ein Neugeborenes soll dazu nicht imstande sein? Ich sehe die Nichtbefassung des psychiatrischen Berufsstandes mit derartigen Phänomenen als eine Form von Widerstand. Es wird wegerklärt.

STANDARD: Was halten Sie von neurochemischen Erklärungen für veränderte Wahrnehmungszustände, etwa die Produktion des Psychedelikums DMT im Körper? Sind die für Ihre Arbeit relevant?

Grof: Nun, es gibt viele Einflüsse, die das Bewusstsein verändern können. Unter ihnen Infektionskrankheiten wie Meningitis, degenerative oder chemische Veränderungen. Ich interessiere mich vor allem für eine bestimmte Untergruppe, die therapeutisches und auch evolutionäres, transformatives Potenzial hat: zum Beispiel die Erfahrungen, die schamanische Novizen bei den Initiationsriten haben oder Angehörige bestimmter Kulturen bei den Übergangsriten zum Erwachsenendasein.

Oder die Phänomene von Tod und Wiedergeburt, Isis und Osiris, Bacchanalien. Oder die vielen Erfahrungen, die in den großen Religionen und mystischen Traditionen induziert werden, bei bestimmten Yoga-Methoden, buddhistischen, taoistischen, christlich-mystischen oder kabbalistischen Schulen. Wenn sie richtig verstanden werden, enthalten sie viele Heilungsmöglichkeiten. Sie sollten nicht als Pathologien klassifiziert werden.

STANDARD: Wenn LSD in den USA nicht eingeschränkt, letztlich verboten worden wäre, dann würden Sie vielleicht heute noch damit arbeiten.

Grof: Sicher. Und es gibt ja zur Zeit eine große Renaissance dieser Forschung, an der Johns Hopkins, an Harvard, UCLA, SUNY. Sie wiederholen einige der Arbeiten, die wir mit Krebspatienten gemacht haben. Sie verwenden dabei Psilocybin, weil LSD seit den Sixties so einen schlechten Ruf hat.

STANDARD: War Terence McKenna, der die Ethnopharmakologie, die Beschäftigung  mit natürlichen psychedelischen Substanzen in verschiedenen Kulturen begründete, für Sie wichtig?

Grof: Er war ein faszinierender Denker. Er war überzeugt, dass die magischen Pilze, die auf Kuhfladen wachsen, eine Rolle bei der Entwicklung des Neocortex spielten.

STANDARD: Wie das?

Grof: Er sah eine Art Symbiose. Humanoide, also unsere Vorvorfahren, hätten diese Pilze gegessen, und die Rinder  seien die Träger gewesen. In "Food of the Gods" (deutsch: "Die Speisen der Götter") entwickelte er seine Thesen ausführlich.

STANDARD: Produziert Sandoz noch LSD?

Grof: Nein. Sie sollen aber angeblich noch zwei Pfund davon haben (Anm.: Für einen Trip reichen durchschnittlich 100 Mikrogramm, ein Gramm ergibt demnach 10.000 Trips). Ich glaube, sie wissen nicht, was sie damit tun sollen - gibt’s vielleicht ein Comeback, sollen wir’s aufheben oder wegschmeißen?

STANDARD: Woran würden Sie jetzt gerne mit der Chemikalie arbeiten?

Grof: Einerseits um das zu tun, was auch Analytiker machen, nämlich zu erkunden, wie die psychischen Dynamiken bei verschiedenen Diagnosen aussehen, wie man mit den Menschen am besten arbeiten kann. Es wäre auch faszinierend, mit Künstlern zu arbeiten wie in den Sechzigern. Mich interessieren vor allem gerade die Auswirkungen auf Kreativität.

Es ist bekannt, dass zumindest zwei Nobelpreisträger LSD-Erfahrungen hatten: Francis Crick, der einer der Erforscher der DNA war, und Kerry Mullis, der die Polymerase-Kettenreaktion entwickelte. Beide sagten, dass die Drogenerfahrungen ihnen bei ihrer Arbeit halfen. Und John Markoff beschreibt in dem Buch "What The Dormouse Said: How The Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry" den Einfluss von Psychedelika auf Silicon Valley. Steve Jobs hat demzufolge gesagt, die Mitarbeiter, die kein LSD genommen haben, hätten Schwierigkeiten, seinen Gedanken zu folgen. Es müsste also sehr spannend sein, hoch qualifizierten Leuten, die an Problemen arbeiten, diese Substanz zu geben.

Es war ja auch interessant, dass die positivsten Reaktionen auf meine Arbeit nicht von Psychiatern kamen, sondern von Physikern. Denn das Denken in der Physik nähert sich den Denkvorgängen an, die in psychedelischen Sitzungen passieren. (Michael Freund, DER STANDARD, 13.5.2013)