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Archäologen in Atapuerca nahe Burgos: Hier wurden Spuren der ältesten Menschen Europas gefunden. Seit Jahrzehnten ringen Forscher um den Sieg im Wettrennen um den allerältesten Fund.

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Winziges Fossil, große Wirkung: Zahn des Kindes von Orce.

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Der Titel des Aufsatzes lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "The oldest human fossil in Europe dated to ca. 1.4 Ma at Orce (Spain)". Er erschien Anfang März im renommierten "Journal of Human Evolution". Mit dem Superlativ des "ältesten" menschlichen Fossils in Europa im Titel schielten die 18 Autoren - überwiegend spanische sowie einige französische - aber wohl auch auf die Massenmedien. Die Botschaft: Wir haben den Wettlauf um den "ältesten" Europäer gewonnen.

Die Fossilienhatz brachte seit den 1970er-Jahren immer wieder Etappensieger hervor. Neue Bestmarke: 1,4 Millionen Jahre. Die Präsentation des fossilen Preisträgers im Museum für Archäologie in Granada glich denn auch einer Reliquienhuldigung. Es handelt sich bei dem Fund um die Krone eines Backenmilchzahnes eines etwa zehnjährigen Hominidenkindes. Und diese ist kleiner als ein Würfel. Das winzige Fossil war schon 2002 an der Grabungsstelle Barranca-León nahe der Ortschaft Orce in der Provinz Granada gefunden worden. Aber die Datierung erwies sich als äußerst aufwändig und langwierig.

Welcher Spezies der Gattung Homo dieser Zahn zuzurechnen sei, lässt sich freilich nicht sagen. 1244 Objekte hat man zudem geborgen, mehrheitlich Werkzeuge aus Feuer- und Kalkstein, "was auf eine regelrechte Industrie hindeute", sagte Isidro Toro Moyano, Direktor des Museums für Archäologie und Zweitautor der Publikation, bei der Präsentation in Granada. "Orce ist die wichtigste Fundstelle Europas", behauptete Erstautor Bienvenido Martínez vom katalanischen Institut für die Paläoökologie des Menschen und soziale Evolution (IPHES).

Nur: Lange konnten sich Martínez und Co nicht im medialen Scheinwerferlicht sonnen. Mitte März wurde die Publikation "zeitweilig" zurückgezogen, wie die Zeitschrift bekanntgab. Ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Was war passiert? Nun, um es etwas zuzuspitzen: Das sogenannte "Kind von Orce" wurde vom "Mann von Orce" angerempelt.

Die Vorgeschichte: Im Sommer 1982 entdeckte der katalanische Paläontologe Josep Gibert gemeinsam mit zwei Kollegen am "Venta Micena", einer ebenfalls nahe Orce gelegenen Fundstelle, ein Schädelfragment. Alter ebenfalls etwa 1,4 Millionen Jahre. Die Medien frohlockten angesichts dieses "andalusischen Adams", der bald als "Mann von Orce" auch Regionalpolitiker entzückte. Die große Ernüchterung kam erst knapp zwei Jahre später: Nach der Reinigung der Innenseite des Schädelstücks kam ein kleiner Kamm zum Vorschein.

Vom Mann zum Esel

Höchst atypisch für Hominiden, aber die Norm bei Equiden. Insbesondere französische Wissenschafter behaupteten, dass der Mann von Orce eigentlich ein Esel sei. In der Folge schlossen sich die meisten spanischen Forscher dieser Ansicht an. Nur Gibert wollte sich damit partout nicht abfinden.

Bis zu seinem Tod im Jahre 2007 kämpfte er um seinen "Mann von Orce" und wurde für viele zu einer tragischen Figur, für manche gar zu einer Lachnummer. Die Autoren des Artikels zum Kind von Orce straften Josep Gibert ab, indem sie ihn auf neun Seiten mit keinem Wort erwähnten. Zu den Autoren gehören einige seiner Hauptgegner in der jahrzehntelangen Debatte, etwa Bienvenido Martínez.

Es war Josep Giberts Sohn Lluís, ein Geologe der Universität von Barcelona, der mit einer Intervention bei der Zeitschrift den temporären Rückzug der Publikation erreichte. Die Erkenntnisse und Ideen seines Vaters hätten die Autoren benutzt, ohne seinen Namen zu erwähnen: "Wie dereinst in der Sowjetunion", echauffiert sich Lluís Gibert. Und insistiert: "Der Mann von Orce ist ein Mensch." Er fordert eine Ehrenrettung seines Vaters.

Schon sprechen die spanischen Medien aufgrund der scheinbar endlosen Querelen von einem Fluch, der auf Orce laste. Ganz im Gegensatz zum spanischen Paläo-Paradeprojekt Atapuerca, dem bisherigen Inhaber des Ehrentitels "Wiege der europäischen Menschheit" (siehe Rezension).

Eines ist freilich mittlerweile unstrittig, durch die jüngsten Funde in Atapuerca, aber auch in Frankreich und Italien: Europa wurde wesentlich früher besiedelt, als viele noch in den 1980er- oder 1990er-Jahren glaubten, nämlich schon vor etwa 1,4 bis 1,5 Millionen Jahren. Und: Wenn die Autoren einige Referenzen zu Josep Gibert einfügen, wird das Kind von Orce möglicherweise bald auch wieder oben auf dem Treppchen stehen. (Jan Marot aus Granada, DER STANDARD, 08.05.2013)