Kulturstadtrat Andreas Mailath- Pokorny (SPÖ, li.) und der Historiker Oliver Rathkolb: Bis Anfang Juni soll der Schlussbericht über 4100 Straßennamen in Wien vorliegen.

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STANDARD: Die Stadt Wien lässt gerade Straßennamen daraufhin untersuchen, ob unter den Namensgebern problematische Personen sind. Wann liegt das Ergebnis vor?

Oliver Rathkolb: Anfang Juni. Wir machen bei den 4100 Straßen, die sich auf Personen beziehen, eine umfassende Archivrecherche. Außerdem soll es einen international vergleichenden Teil geben.

STANDARD: Können Sie die Zahl der schwierigen Fälle nennen?

Rathkolb: Noch nicht. Es gibt offene Punkte. So haben wir einen Namensgeber, der bei der Waffen-SS war. Nur ist die Akte nicht komplett.

STANDARD: Reicht die Mitgliedschaft in der Waffen-SS nicht aus?

Rathkolb: Nein. Da wäre ich vorsichtig. Es gibt Fälle, wo Buben in letzter Minute zur Waffen-SS eingezogen wurden. Der große Fehler der Entnazifizierung war zu sagen: Die illegalen Nazis vor 1938 sind die besonders verfolgungswürdige Gruppe. Was war das Ergebnis? Wir haben uns in der Zweiten Republik wüste Antisemiten in wesentlichen Entscheidungsträgerstrukturen eingeheimst, nur weil sie nie Parteimitglied waren.

Andreas Mailath-Pokorny: Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Es ist gut, wenn im Juni eine fundierte Arbeit zu den Straßennamen vorliegt. Dann wird man nach und nach daraus die Konsequenzen ziehen - gemeinsam mit den Bezirken.

STANDARD: Ab wann ist jemand unwürdig, dass eine Straße nach ihm benannt wurde? Wo ist die Grenze?

Rathkolb: Diese Entscheidung muss die Stadtregierung treffen. Wir werden unterschiedliche Nähen zu Unrechtsregimen aufzeigen - nicht nur anhand von NSDAP-Mitgliedsnummern. Nehmen Sie den Musikwissenschafter Robert Lach, nach dem 1968 eine Gasse in Wien-Floridsdorf benannt worden ist. In den Musikenzyklopädien ist er einer unter vielen Nazis. Ein Blick auf seine Briefe, die übrigens der STANDARD publiziert hat, zeigt aber den Paradefall eines unglaublich denunziatorischen Antisemiten.

Mailath-Pokorny: Es muss Klarstellungen in den offiziellen Registern und Archiven der Stadt geben. Wir müssen diese Informationen bestmöglich vor Ort öffentlich vermitteln - sei es mit Zusatztafeln oder mittels künstlerischer Interventionen. Bei Umbenennungen von Straßen bin ich zurückhaltend. Es geht nicht darum, Geschichte auszulöschen, sondern darum, sie bewusstzumachen. Bei manchen Persönlichkeiten gehören die historische Forschungen intensiviert. Dass es zu Renner wenig historische Arbeiten gibt, halte ich für ein Defizit.

Rathkolb: Ich war sehr irritiert über diese Debatte. Renner war ein Mensch mit einer unglaublich chamäleonartigen Wendigkeit in alle Richtungen. Diese Debatte gehört geführt. Aber es sollten die Dimensionen gewahrt werden. Es gibt einen Unterschied zwischen antisemitischen Zurufen in einer Debatte durch Renner, die teilweise, aber nicht immer, provozierend gegen Leopold Kunschak gemeint waren, und Luegers Strategie. Das Gesamtprofil des Antisemitismus eines Luegers mit Renner gleichzusetzen ist schlicht und einfach falsch.

STANDARD: Herr Stadtrat, mit dem Hinweis, die ÖVP solle zuerst das Dollfuß-Bild aus ihrem Parlamentsklub entfernen, haben Sie deren Begehr nach einer Umbenennung des Renner-Rings abgeschmettert.

Mailath-Pokorny: Ich habe nicht das abgeschmettert, sondern den durchsichtigen Versuch eines ÖVP-Funktionärs zu sagen: Nehmt ihr uns den Lueger, nehmen wir euch den Renner! Das halte ich für kindisch. Beim Lueger-Ring, der jetzt Universitätsring heißt, handelt es sich insofern um eine Ausnahme, weil es andere politische Erinnerungsorte an ihn in Wien gibt - auch einen Platz in der Innenstadt, der nach ihm benannt ist. Mein Vorschlag lautet: Spannen wir die Parteiakademien und die Parlamentsklubs mit der Wissenschaft zusammen, um ein übergeordnetes Projekt zu initiieren, das der Erforschung der Biografien Renners, Kunschaks und anderer dient.

STANDARD: Geht es nur um die NS-Zeit? Beispiel Arnezhoferstraße, in Wien-Leopoldstadt. Benannt ist sie nach dem antisemitischen Pfarrer Johann Ignaz Arnezhofer, der 1670 die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung organisiert hat.

Rathkolb: Das ist die Krux. Bei der NS-Zeit habe ich wenigstens Aktenmaterial. Bei Abraham a Sancta Clara wird's schon mühsam. Eine Straße auszulöschen ist leicht. Den Diskurs am Leben zu erhalten ist wichtiger.

Mailath-Pokorny: Die Debatte hat einen großen Vorteil: Sie schafft Bewusstsein. Es ist ja auch sehr interessant, dass es in den 1960er-Jahren viele Benennungen von Personen gab, die in der NS-Zeit groß geworden und entsprechend verehrt worden sind.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass man zu spät hinterfragt, nach wem die Straßen heißen?

Rathkolb: Es ist ein Teil unserer Geschichtspolitik. Die Benennungen der 1960er-Jahre hängen damit zusammen, dass dies die Jahre des totalen Schlussstriches sind. Kriegsverbrecher und Schlächter werden der Reihe nach freigesprochen. Jetzt sind wir in einer Phase, in der wir bereit sind, Tabuthemen anzugehen. Karl Lueger war vor dem Jahr 2000 auch ein solches.

Mailath-Pokorny: Es bedurfte einer jüngeren Generation, die sich traut, Fragen zu stellen.

STANDARD: Erforschen andere Städte Österreichs ihre Straßennamen?

Rathkolb: Nicht in dieser Größenordnung. Punktuelle Umbenennungen gibt es - in Linz etwa. Da wird sich noch einiges bewegen, auch international. Wenn Sie in Brüssel den Boulevard Léopold II entlangfahren oder -gehen, wird manchen die Erinnerung an ihn als die eines unglaublichen Kolonialschlächters im Kongo durch den Kopf gehen. Wie aber soll denn gleichzeitig im künftigen Haus der Geschichte mit dieser unkommentierten Straßenbenennung umgegangen werden, wenn der Kolonialismus thematisiert wird? (Peter Mayr, DER STANDARD, 8.5.2013)