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Der aktuelle syrische Muslimbrüder-Chef Riyad Shakfeh.

Foto: EPA/MUSTAFA OZTURK

Die islamistische Landschaft im syrischen Bürgerkrieg ist ständig im Fluss, immer wieder gibt es Neubildungen, Zusammenschlüsse, Spaltungen. Welche Gruppierung letztlich die Szene dominieren wird, wenn das Assad-Regime fällt, ist schwer einzuschätzen – und ebenso, wie sie zur syrischen politischen Opposition im Exil stehen wird. Dort vertraut die syrische Muslimbruderschaft darauf, dass sich ihre 60-jährige Geschichte und ihre Auslandsaktivitäten, die sofort nach dem Ausbruch des Aufstands hochgefahren wurden, in konkretem Zulauf in Syrien niederschlagen: Aber wie stark sie heute wirklich ist, weiß niemand. Von manchen anderen Gruppen kamen gleich zu Beginn der Rebellion Klagen, dass die Ikhwan (Brüder) in Syrien nur ihren deklarierten Anhängern helfen beziehungsweise sich durch ihre Hilfe Anhänger erkaufen.

Die syrischen Muslimbrüder verweisen gerne auf die Stärke ihrer Mutterorganisation in Ägypten, um ihre Bedeutung für die Zukunft Syriens zu betonen - aber ihre Situation ist eine völlig andere. Im Gegensatz zur ägyptischen Brüderschaft war der syrische Zweig nie eine Massenorganisation. In den 1980er Jahren wurde die syrische Muslimbruderschaft - und ihr radikaler Ableger, die "Kämpfende Avantgarde" - in Syrien quasi ausgerottet, aus dem Jahr 1980 stammt das Notstandsgesetz Nummer 49, das allein die Mitgliedschaft bei der Bruderschaft mit der Todesstrafe belegt. Aber im Exil ist die Organisation immer präsent geblieben, wenn sie auch oft intern zerstritten war. Sie versteht etwas von Medienarbeit und PR: Mit einiger Irritation etwa nahmen Beobachter einige Monate nach Ausbruch des Aufstands zur Kenntnis, dass die aktivste Revolutions-Website von Muslimbrüdern in Schweden betrieben wurde - ohne Hinweis auf den religiösen Hintergrund der Betreiber.

Diese Taktik war auch beim SNC, dem Syrian National Council (SNC), zu beobachten: Die Muslimbrüder dominierten den Council seit dessen Gründung, als Frontmann nahmen sie jedoch den säkularen Sorbonne-Professor Burhan Ghalioun. Mit der Zeit wuchs der Widerstand in der Opposition gegen die Muslimbrüder-Dominanz, was letztlich zum Versuch führte, den SNC in einen größeren Kontext zu stellen. Die "Syrian National Coalition for Opposition and Revolutionary Forces" wurde als Dachverband gegründet, der die Opposition auch besser an die Gruppen in Syrien anbinden sollte. Der SNC machte aber weiterhin seine eigene Politik: Die Gründung einer Exilregierung unter dem islamischen Aktivisten Ghassan Hitto geht auf das Konto der Muslimbrüder. Eine tiefe Spaltung der "Coalition" - und vor allem der Rücktritt ihres Chefs Muaz al-Khatib, der sich in seiner kurzen Funktionszeit im Westen viel Ansehen erworben hatte - war die Folge.

Die Geschichte der Ikhwan in Syrien

Die Anfänge der syrischen Muslimbruderschaft reichen in die 1930er Jahre, offiziell wurde sie nach Syriens Unabhängigkeit 1946 gegründet: als Zweig der ägyptischen Organisation, weswegen sie eigentlich nur von einem "Superintendenten" geleitet wird, über dem - theoretisch - der Oberste Führer der Ikhwan in Ägypten steht. Die ersten Gefolgsleute kamen aus der sunnitischen gebildeten Mittelschicht, mit einem elitäreren Touch als in Ägypten. Als der erste Superintendent Mustafa al-Sibai in den 1950er Jahren sein Werk "Der Sozialismus des Islam" schrieb, kostete ihn das in konservativeren islamischen Kreisen viel Ansehen. Zwischen 1949 und 1963 nahm die Bruderschaft am politischen Leben teil, stellte Minister, blieb aber immer eine kleine Gruppe: Bei Parlamentswahlen 1961 kam sie auf zehn von 172 Sitzen.

Nach dem Baath-Putsch 1963 wurde die Muslimbruderschaft verboten, die erste Exilwelle setzte ein - und eine radikale Gruppe wurde gegründet, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat aufnahm. Aber es gab auch Zerwürfnisse zwischen den lokalen Muslimbrüder-Fraktionen: Nach dem Tod von Sibai 1964 wurde Issam al-Attar zu dessen Nachfolger gewählt, der ins Exil nach Deutschland ging. Anfang der 1970er Jahre wurde er von Abd al-Fattah Abu Ghudda aus Aleppo aus dem Amt gedrängt. Heute kommt der oberste Chef aus Hama, es ist Riad Shakfeh, der 2010 den aus Aleppo stammenden Ali Sadr a-Din al-Bayanouni ablöste. Die Fraktionen Hama und Aleppo waren sich auch im Exil lange Zeit spinnefeind.

Als 1970 Hafiz al-Assad an die Macht kam, schien sich für kurze Zeit ein Fenster für eine Verständigung mit dem Regime aufzutun - Bruderschafts-Mitglieder nahmen sogar an Wahlen teil -, das sich jedoch bald wieder schloss. Die Fronten verhärteten sich. Die Anhänger eines im Gefängnis umgekommenen radikalen Muslimbruders gründeten die Gruppe "Kämpfende Avantgarde", die ihre Terrorismuskampagne gegen staatliche Einrichtungen begann. Ihre berühmteste Tat ist das Attentat auf eine Kadettenschule in Aleppo 1979, bei der Dutzende meist alawitische Soldatenanwärter starben. Nach einem fehlgeschlagenen Attentatsversuch ließ Präsident Hafiz al-Assads Bruder Rifaat rund 1000 Islamisten hinrichten. Es folgte das bereits erwähnte "Gesetz 49". 1982 setzte das Regime, wieder unter dem Sicherheitschef Rifaat al-Assad, den Schlusspunkt mit einem Bombardement der Stadt Hama, bei dem bis zu 20.000 Menschen starben. Danach war Friedhofsruhe in Syrien. Rifaat al-Assad, der 1984 selbst gegen seinen Bruder putschen wollte und Syrien verließ, versuchte 2011 auf den Aufstand aufzuspringen: Aber den Wandel zum Demokraten nimmt ihm niemand ab.

Fürsprecher Erdogan

In ihrer Exilzeit versuchte sich die Muslimbruderschaft im Schmieden verschiedener Allianzen. Nach dem Tod des alten Assad im Jahr 2000 wurden vorsichtige Kontakte zum - nun von Bashar al-Assad geführten - Regime hergestellt. Die liefen zwar ins Leere, später hatten die Muslimbrüder aber mit dem türkischen Premier Erdogan einen Fürsprecher: Es heißt immer, dass Bashar al-Assad ihm versprach, die Muslimbrüder zu reintegrieren und an der Macht teilnehmen zu lassen. De facto nahm aber Assad nicht einmal das verhasste "Gesetz 49" zurück - die Enttäuschung Erdogans über Assad führte angeblich dazu, dass er 2011 den Aufstand von Stunde eins an unterstützte.

Auch die Brüder selbst sandten oft unterschiedliche Signale. Ihr Islamisierungsprojekt für Syrien gaben sie nie auf, andererseits schlossen sie sich der "Damaskus-Deklaration für einen demokratischen Wechsel" an, die 2005 von syrischen Oppositionellen, fast alle davon Säkulare, ins Leben gerufen wurde. Damit vertrug sich jedoch ihre Allianz von 2006 mit dem früheren syrischen Vizepräsident Abd al-Halim Khaddam nicht, der gerade vom Regime abgesprungen war - aber bestimmt nicht, weil es ihm zu undemokratisch war. Nicht erst seit diesem Zeitpunkt haftet den syrischen Muslimbrüdern der Ruf an, nicht ganz durchsichtig zu sein. Sie sind für viele Säkulare eine Kraft, von der man nicht sicher sein könne, wohin sie wirklich will, der man nicht trauen sein: Will sie Teil eines demokratischen politischen Prozesses für ein ganz neues Syrien sein oder am Ende doch ihre Islamisierungsagenda durchsetzen? Es gibt etliche Bekenntnisse von Muslimbruder-Führern zu einem Syrien für alle Bürger - keiner sollte wegen seiner Religion diskriminiert werden. Im islamischen Spektrum der Gruppen, die in Syrien kämpfen, sind die Muslimbrüder zweifellos auf der moderaten Seite, aber vielen säkularen Syrern und Syrerinnen genügt das nicht als Versicherung für die Zukunft. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 7.5.2013)