"Es wäre anmaßend, jemandem zu sagen: 'Ab jetzt bist du integriert'": Nurten Yilmaz.

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Nurten Yilmaz ist Fußballfan - und demonstriert das auch durch den Schmuck ihres Handgelenks.

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Nach der Nationalratswahl im Herbst wird Nurten Yilmaz mit hoher Wahrscheinlichkeit für die SPÖ ins Parlament einziehen und damit nach Alev Korun von den Grünen die zweite türkischstämmige Abgeordnete im Nationalrat sein. derStandard.at sprach mit ihr über Partei-Disziplin, ihre Schulzeit und die Rolle der SPÖ in der Migrationspolitik. 

derStandard.at: Manche bezeichnen Sie als "ideologisch". Können Sie damit leben?

Nurten Yilmaz: Ich kann damit sehr gut leben. Aber ich bin nicht nur linke Feministin.

derStandard.at: Nicht nur, aber auch?

Yilmaz: Ja. Ich bin aber auch Wienerin - mit allem, was dazugehört. Um Otto Schenk zu zitieren: Man kommt ja nicht als Wiener auf die Welt, man wird zu einem. Dazu gehört das Sudern genauso wie Beharrlichkeit, ein großes Herz, manchmal auch Kleinlichkeit.

derStandard.at: Wie wurden Sie politisiert?

Yilmaz: Das war in der hochpolitischen Zeit der 70er Jahre, ich war 16 und hatte noch gebrauchte Schulbücher. Das war so: Entweder hatten die Eltern das Geld, neue Bücher zu kaufen, oder man hat die alten von den vorhergehenden Klassen bekommen - und manche Bücher waren wirklich mehr als gebraucht. Dann hast du auf einmal einen neuen Atlas in der Hand, den du als Erste aufmachst. Dieses Gefühl ist heute noch in mir drin. Und ich möchte nicht vergessen lassen, wer dafür gesorgt hat.

derStandard.at: Wer sind Ihre politischen Vorbilder?

Yilmaz: Wer traut sich, nicht "Johanna Dohnal" zu sagen?

derStandard.at: Johanna Dohnal hat Konfrontation nie gescheut. Wie gehen Sie mit dem inneren Konflikt um, Ihrer eigenen Meinung treu zu bleiben und gleichzeitig in der Partei die geforderte Linientreue zu zeigen?

Yilmaz: Ich sehe es nicht als Widerspruch, nach außen hin geschlossen aufzutreten und intern Meinungsverschiedenheiten zu haben. Unsere Werte verbinden uns, sie sind die Grundlage, auf der wir unsere Diskussionen ausleben. Wenn man anderer Meinung ist, heißt das nicht, dass man nicht geschlossen ist.

derStandard.at: Wie wichtig ist Ihnen Klubdisziplin?

Yilmaz: Sehr wichtig. Diskutieren kann man im Klubbüro - und zwar alles. Aber wenn man zu einer gemeinsamen Meinung gefunden hat, dann ist sie einzuhalten. Dazu stehe ich. Der Wiener Bürgermeister hat einmal gesagt: Eine Familie soll im Wohnzimmer alles diskutieren - aber nicht am Balkon.

derStandard.at: Können Sie sich vorstellen, einmal anders abzustimmen als die eigene Fraktion, wenn Ihr Gewissen es verlangt?

Yilmaz: In dieser Situation war ich noch nie, daher kenne ich das Gefühl nicht. Ich würde mich wahrscheinlich mit den anderen im Klub beraten - um dann das für mich Erträgliche zu tun.

derStandard.at: Sie haben in den 1960er Jahren im 15. Wiener Bezirk die Volksschule besucht. Wie viele türkischsprachige MitschülerInnen hatten Sie damals?

Yilmaz: Keine einzige. Und auch nur eine andere Migrantin, sie hieß Dragica und kam aus Jugoslawien.

derStandard.at: Heute liegt der Anteil der VolksschülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch in Wien bei 48 Prozent. Ist das ein Problem?

Yilmaz: Sicher gibt es Herausforderungen, weil die Stadt diverser geworden ist und auf der Straße, im Park, in den Ämtern mehr Migranten zu sehen sind. Damals, als ich nach Wien gekommen bin, waren die Gastarbeiter ja in den seltensten Fällen mit ihren Familien da. Man hat sie auf Baustellen gesehen, bei der Arbeit, aber sonst nirgends. Nicht in der Schule, nicht auf den Ämtern. Das hat sich geändert, das Stadtbild hat sich geändert. Und die Stadt Wien hat sich darauf eingestellt: Seit 1996 gibt es eine aktive Integrationspolitik.

derStandard.at: Die Bundes-SPÖ hat sich dieses Thema von der ÖVP aus der Hand nehmen lassen: Der Integrations-Staatssekretär der Volkspartei lächelt aus allen Medien, und die SPÖ schaut zu. Was ist da passiert?

Yilmaz: Sebastian Kurz ist ein cooler Ideen-Fladerer, das macht er wirklich gut. (lacht) Mich freut es, dass er Best-Practice-Beispiele aus Wien in die Bundesländer getragen hat.

derStandard.at: Rot-Weiß-Rot-Fibel und schnellere Einbürgerung für freiwillige Feuerwehrleute sind also Neuerungen, die Sie unterstützen?

Yilmaz: Nein, das ist nicht mein Zugang. Integration durch Leistung, so wie Kurz das definiert, das ist nicht meins. Er definiert Leistung durch ehrenamtliche Tätigkeit, durch monatliche Einkommensgrenzen. Ich sage: Die Frauen und Männer, die täglich zwischen 5 Uhr und 7 Uhr unsere Büros putzen und keine 2.000 Euro brutto verdienen, leisten auch großartige Arbeit. Und ich weiß nicht, wie viele Alleinerzieherinnen neben ihren Jobs noch ehrenamtlich arbeiten können.

derStandard.at: Viele sagen, Kurz habe den Integrationsdiskurs versachlicht. Sie auch?

Yilmaz: Diese Versachlichung hat er von Wien auf die Bundesebene übernommen - aber wir sollten nicht vergessen: Sie trägt das Copyright Wiener Sozialdemokratie. Gute Ideen zu fladern finde ich voll okay. Was mich stört, ist, dass das Integrations-Staatssekretariat im Innenministerium angesiedelt ist. Dort gehört es wirklich nicht hin, das ist kein Sicherheitsthema. Aber man wird ja genügsamer. Zumindest gibt es endlich jemanden, der dieses Thema auf ministerieller Ebene diskutiert. Man hat auch gesehen, dass die ÖVP darüber jetzt etwas anders diskutiert - das war nicht immer so.

derStandard.at: An der teils wirren und restriktiven Rechtslage hat sich trotzdem wenig geändert: In kaum einem anderen EU-Land ist es so schwierig, eingebürgert zu werden, wie in Österreich. Mehr als eine Million der hier lebenden Menschen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, die SPÖ hat diese Gesetze mitbeschlossen. Was ist daran sozialdemokratisch?

Yilmaz: Koalition ist Koalition. Die SPÖ hat einen ganz anderen Zugang dazu. Staatsbürgerschaft ist ein Teil der Integrationsbiografie. Das unterscheidet uns von der ÖVP, die ja die Staatsbürgerschaft erst als Krone der Integration sieht.

derStandard.at: Auch SPÖ-Klubobmann Cap sagt, dass sich Zugewanderte den Zugang zum österreichischen Sozialsystem erst "verdienen" müssen - er begründete so die hohen Hürden bei der Einbürgerung.

Yilmaz: Ja, da muss man sicher reden miteinander. (lacht) Es ist schon so, dass die Sozialdemokratie eine sehr breit aufgestellte Bewegung ist. Wir sind eine sehr große Familie mit vielen, vielen Meinungen. Das ist dann die Königsdisziplin, da auf einen Nenner zu kommen. Aber wir haben Instrumente: Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeitssinn.

derStandard.at: Die SPÖ hat diese Gesetze aber nicht nur mitbeschlossen, sie blockiert auch dort, wo sie selbst Entscheidungsmacht hat. Stichwort: Arbeitserlaubnis für Asylsuchende, Lockerung des Zugangs zur Rot-Weiß-Rot-Karte. Es ist SPÖ-Sozialminister Rudolf Hundstorfer, der hier Njet sagt.

Yilmaz: Na ja, er verhandelt wirklich hart. Er hat auch einen Erlass herausgegeben, dass AsylwerberInnen bis 25 eine Lehre beginnen können - und die ÖVP ist schlicht dagegen.

derStandard.at: Beim Arbeitsmarktzugang legt sich der Sozialminister aber weiterhin quer.

Yilmaz: Es gibt zurzeit einiges auszudiskutieren. Da muss man sich auch im Klaren sein: Welche Mehrheiten haben diese Ideen? Ich bin Wiener Stadtpolitikerin, da gibt es einen anderen Zugang.

derStandard.at: Bald sind Sie Bundespolitikerin. Werden Sie dann im SPÖ-Klub diesen anderen Zugang forcieren?

Yilmaz: Sicher. Ich kann ja nicht einfach das, was ich bisher gemacht habe, hinter mir lassen und sagen: "Das war's, Freunde." Das werde ich weiter beibehalten, und da muss man dann vieles ausdiskutieren. Es muss uns zu denken geben, dass das Fremdenrecht in den letzten neun Jahren zehnmal novelliert wurde - das ist schon ein Zeichen, dass etwas hinten und vorne nicht passt. Und man macht den Einbürgerungswilligen das Leben unnötig schwer. Man könnte sagen, wir machen uns unsere Ausländer selber.

derStandard.at: Manche meinen, die SPÖ habe sich in der Vergangenheit zu stark an FPÖ-Positionen orientiert.

Yilmaz: Dieser Meinung bin ich nicht. Die Aufgabenstellungen ändern sich ständig, und man versucht, Antworten zu finden. Ich erinnere daran, dass sich die SPÖ als einzige Partei klar gegen die FPÖ positioniert hat. Da kamen dann die Vorwürfe, dass wir die Blauen ausgrenzen.

derStandard.at: Stichwort Lichtermeer: Die SPÖ hat 1993 den Protest gegen das damalige FPÖ-Ausländervolksbegehren unterstützt - und später einige der Forderungen des Volksbegehrens umgesetzt.

Yilmaz: Das sehe ich auch nicht so. Ja, es ist restriktiver geworden, auch mit unserer Verantwortung - das stimmt auf jeden Fall.

derStandard.at: Hat die SPÖ da übers Ziel geschossen?

Yilmaz: "Übers Ziel geschossen" wäre übertrieben. Auf der Suche nach Antworten hat man sicher auch Fehler gemacht.

derStandard.at: Sie sind Mitbegründerin eines Vereins binationaler Ehepaare. Die dort organisierten Paare leiden besonders stark unter den Gesetzesverschärfungen der letzten zehn Jahre. Ist man da zu weit gegangen?

Yilmaz: Mit Sicherheit. Auch der Bundeskanzler hat gesagt, als die neue Einkommensgrenze bekannt wurde, dass auch weniger gut verdienende Menschen Leistungsträger sind. Man grenzt sonst  abertausende Menschen aus.

derStandard.at: Wie stehen Sie zu Frauenquoten im Nationalrat, bei der Besetzung von Ausschüssen beispielsweise?

Yilmaz: Wie ein Fels in der Brandung - ich liebe diese Methode. Aber nur für Frauen.

derStandard.at: Nicht auch für MigrantInnen beispielsweise?

Yilmaz: Nein. Migrant ist man nicht ein Leben lang - aber Frau ist man ein Leben lang. Ich fühle mich nicht als Migrantin. Aber eine Frau ist eine Frau - ob in Belgrad, Ankara, Dublin oder Berlin. Und sie hat die gleichen Probleme.

derStandard.at: Schadet die Quote jenen Frauen, die dann zum Zug kommen - weil sie dann auf ewig mit einem negativen "Quotenfrau-Label" behaftet sind? Diese Argument hört man ja oft ...

Yilmaz: ... ja, und wir wissen auch, von wem - von den üblichen Verdächtigen. Das sind übrigens auch genau diejenigen, die mit fast genau denselben Argumenten ans Thema Integration herangehen. "Die sollen sich integrieren", heißt es dann - aber bitte ohne jede Unterstützung der Stadt oder des Staates.

derStandard.at: Ab wann ist man denn integriert?

Yilmaz: Das entscheidet jeder für sich, es gibt dafür keinen Maßstab. Es wäre anmaßend, wenn ich jemandem sage: Ab jetzt bist du integriert. Und ehrlich gesagt: Es ist so unwichtig, integriert zu sein. Wichtig ist, Verantwortung zu übernehmen für die Stadt, mitzugestalten, glücklich zu sein. Kinder, Arbeit, Bildung. Es bedarf dieser Auszeichnung "Jetzt bist du integriert" nicht. Wenn man miteinander respektvoll umgeht, ergibt sich sehr viel. Ich erlebe das Tag für Tag - und wir reden über Dinge, die wirklich gut klappen, viel zu wenig.

derStandard.at: Wie beurteilen Sie Frank Stronachs Rolle in der Politik?

Yilmaz: Er lebt diesen amerikanisch-kanadischen Traum, aber den erleben alle zehn Jahre drei Menschen. Ich lebe den Wiener Traum - und den erleben Tausende von Menschen. Es gibt mehr soziale Sicherheit in Wien. Es gibt mehr Leute in Österreich, die einen Aufstieg schaffen nach ihrer Migration, als in den USA. Diesen Traum möchte ich erzählen. Und Frank Stronach, mein Gott - es ist sein Hobby. Er hat sich ja schon einmal einen Fußballverein gekauft, Trabrennen waren auch einmal ein Thema, und jetzt leistet er sich halt eine Partei. Schauen wir mal.

derStandard.at: Sein "Berufspolitiker"-Bashing scheint aber bei einigen Menschen ganz gut anzukommen. Sollten Sie sich das nicht zu Herzen nehmen?

Yilmaz: Ja. Wir müssen viel mehr darüber reden, was die Politik in Österreich auf die Beine gestellt hat. Wir sind das zweitreichste Land in der EU. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Das haben nicht Leute wie Stronach aufgebaut, der keine Betriebsräte braucht und keine Gewerkschaft. Das hat die Politik geschaffen - und nicht irgendwelche Entertainer. (Maria Sterkl, derStandard.at, 20.5.2013)