Gesetzliche Entscheidungen fallen in der Demokratie durch Abgeordnete, die über allgemeine, freie und geheime Wahlen ermittelt werden. Das freie Mandat soll sie vor Interessenkonflikten schützen.

Gerichtsurteile werden in Strafprozessen mithilfe von Schöffen oder Geschworenen gefällt, die von Gerichtspräsidenten aus 0,5 Prozent über das Los ermittelten Wahlberechtigten bestimmt werden.

Armin Wolf, Anchorman der "ZiB 2", Twitter-König und Systemkritiker des Staatsrundfunks, hat einen Gastkommentar über die Reform des ORF (DER STANDARD am 4. Mai) mit dem Satz abgeschlossen: "Lasst das Los entscheiden." Diese flugs auch gleich zum Titel beförderte Forderung kollidiert freilich mit dem Inhalt, weil Wolf die Auslosung von 100 bis 200 Politik-Schöffen vorschlägt, die einen Gesetzesentwurf ausarbeiten.

Selbst wenn wir uns nur an den vom Widerspruch befreiten Text halten, ist Wolfs Vorschlag ein Hammer: Der auch als Journalist gewichtige Moderator insinuiert eine Abkehr vom Parlamentarismus und verlangt die Übertragung von Instrumenten der Gerichtsbarkeit auf die demokratische Regierungstechnik.

Seine vom Politologen Hubertus Buchstein geliehenen Begründungen sind schwach. Es gehe nämlich um Fragen, "die für ein Referendum zu komplex" und für Parlamentarier wegen ihrer Interessenkonflikte unbeantwortbar seien.

Wolf macht in seiner Argumentation einen Riesenfehler: Er begründet die Etablierung einer "Bürgerversammlung" mit dem Zustand des Parlaments - den man ändern könnte, ohne es zu entmachten.

Wolf hat Mitstreiter: Frank Stronach, der 50 ausgeloste Bürger in den Nationalrat schicken möchte, und seit Samstag die Neos mit ihren "Bürgerräten" - Vorstufe zu einer liberalen Variante der "Räterepublik".

Ungefähr das hat 2007 bereits in einem Frontalangriff auf die Parteiendemokratie der Berliner Publizist Florian Felix Weyr in seinem Buch Die letzte Wahl vorgetragen. Er möchte einen Bundestag mit 500 Delegierten durch Losentscheid - so als ginge es um die Zuteilung von Pressekarten für den Prozess gegen Rechtsterroristen in München.

Was in Wolfs Gastkommentar noch schwerer wiegt als das Spiel mit der Klassenlotterie: Er gibt den Naiven. Kann man durch Los ermittelten Bürgern wirklich unterstellen, sie würden in der Frage eines neuen ORF-Gesetzes allen Parteieinflüsterungen widerstehen? Kann man ausschließen, dass Verwandte plötzlich mit Posten belohnt werden, die auf sie wie zugeschnitten wirken? Wird man die Geldköfferchen sehen, die sich im Verkehr zwischen Tagungsräumen und Hotels verbergen?

Nein. Mit der Realisierung von Wolfs Vorstoß würde die österreichische Demokratie ein ganz schlechtes Los ziehen. Sie könnte außerdem in Richtungen gedrängt werden, wo der Losentscheid Verwandte hat. Religiöse Fundamentalisten würden das Los durch göttliche Zeichen ersetzen.

Die Reform der parlamentarischen Demokratie durch ein besseres Wahlrecht und durch mehr sachbezogene Volksentscheide ist wichtiger als der Griff zum Zufall. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 6.5.2013)