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"Du sollst lieben": Kierkegaard auf einer undatierten Skizze.

Foto: Archiv

"Du hast dich vermessen, einen Menschen so zu betrügen, dass du mir alles geworden bist, dass ich all meine Freude daransetzen würde, um deine Sklavin zu sein, dein bin ich, dein, dein Fluch."- Wer Søren Kierkegaards Tagebuch des Verführers zu Ende gelesen hat und diese Zeilen vor Augen hat, der mag denken: Armes Mädchen, wärest du nur nie dem "Verführer" begegnet, diesem Monster von Mann! Allerdings ist das Tagebuch des Verführers ein vielschichtiges Gewebe - in literarischer, philosophischer, psychologischer und autobiografischer Weise.

Erstmals erschien es als Teil eines viel größeren Textkörpers: Kierkegaards Entweder - Oder von 1843; sein Erstlingswerk über Ethik und Ästhetik. Heute liest man Das Tagebuch des Verführers als eigenständigen Text, der nichts an Intensität eingebüßt hat. Am 5. 5. ist es nun 200 Jahre her, dass der dänische Querdenker, religiöse Dandy und literarische Selbstbekenner in Kopenhagen geboren wurde.

"Ich suche meine Beute stets unter jungen Mädchen, nie unter jungen Frauen." Johannes nennt sich der "Verführer" in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Seine Passion ist das Brechen der weiblichen Unschuld. Ganz jung müssen die Frauen sein, denn bei ihnen zeigt sich die erotisch-sinnliche Hingabe quasi im Urzustand. Sein gegenwärtiges Opfer heißt Cordelia, sie ist blutjung, bezaubernd schön, stammt aus sittsamen Kopenhagener Verhältnissen.

Was nun dieser Johannes alles strategisch unternimmt, um seine Cordelia einzufangen, ist tatsächlich ein perfides Meisterstück der Verführung. Er macht sich etwa zum Freund eines jungen Mannes, der Cordelia tatsächlich liebt und sie ehelichen möchte. Da der junge Mann etwas tölpelhaft und schüchtern ist, hilft ihm Johannes anscheinend auf die Sprünge. In Wahrheit führt er Cordelia einen Dummkopf von Mann vor, bis diese Johannes für den einzig Richtigen hält.

Jedes Treffen, jede Geste, jede Berührung ist ab nun eine Inszenierung des Verführers, des Regisseurs dieser Liebes(ent)täuschung. Dabei argumentiert Johannes logisch perfide, gerade so, als sei er ein Adept der Dialektik Hegels (die Kierkegaard rundweg ablehnte). "Verliebt bin ich in mich selbst - warum? Weil ich verliebt bin in dich, denn dich liebe ich, dich allein und alles, was zu dir gehört in Wahrheit, und so liebe ich mich selbst, weil dieses mein Ich zu dir gehört, und hörte ich auf, dich zu lieben, so würde ich aufhören, mich selbst zu lieben." Hier wird logisch richtig geschlossen - und trotzdem gelogen! Denn das "Ich liebe dich" ist Täuschung zum Zwecke der Verführung. Ganz für sich notiert Johannes: "Sie darf um alles in der Welt nicht vor der Zeit ermüden, das heißt vor jener Zeit, da ihre Zeit vorüber ist."

Cordelia willigt alsbald in die Verlobung ein. Und Johannes gelingt das kaum Vorstellbare: Nicht er wird dieses Bündnis lösen, sondern Cordelia selbst, indem sie sich durch die argumentativen Einflüsterungen Johannes' überzeugen lässt, dass er nicht der Richtige sei. Den Abschluss bildet der sexuelle Vollzug. Damit ist für Johannes die Verführung beendet.

Beim Lesen von Søren Kierkegaards Tagebuch des Verführers kommen aber Zweifel auf, die am coolen Image des Mannes kratzen. Indem Johannes in extremer Weise Liebe vorspielt, spielt er sich selbst in die Liebe hinein - nämlich in die zart-sinnliche Liebe des Mädchens Cordelia. Sie ist die andere Seite der Verführung, ein Spiegel, der Johannes tiefenpsychologisch Dreifaches vor Augen führt: Er ist liebesunfähig, weil er Angst vor der Hingabe hat. Und er hat Angst vor der Hingabe, weil sie ins Religiöse umzuspringen droht: Die blutjunge, unschuldige Cordelia sollte imaginativ eine unerreichbare Madonna sein. Doch wer gottgleiche Liebe im Leben anstrebt, ist der nicht ein schlimmer Ketzer?

Diese Überlegung führt direkt in Søren Kierkegaards vertracktes Liebesleben. Auch er freite in jungen Jahren das bildhübsche Mädchen Regine Olsen - und löste die Verlobung alsbald. Verfallen blieb er ihr ein Leben lang. Und sie, längst verheiratet und dann Witwe, vermarktete sich als "ewige Braut" Kierkegaards. Sie gab Interviews, besuchte sein Grab, genoss den späten Ruhm. Und dieses seltsame Liebesverhältnis ist natürlich eine "Parallelaktion" zu Kierkegaards Tagebuch des Verführers.

Nachzulesen ist das alles in Joakim Garffs wunderbarer, klug und vergnüglich geschriebener Kierkegaard-Biografie. Kierkegaard löste die Verbindung zu Regine Olsen aus mehreren Gründen: Auch er hatte Angst vor der Hingabe und Angst davor, nicht mehr unabhängig schreiben und leben zu können. Doch auch das religiöse Motiv spielt mit hinein. Wie sein " Verführer" Johannes überhöhte Kierkegaard seine Liebe zu Regine ins Religiöse, Madonnenhafte. Und das war ihm eben nicht geheuer!

Sein an Kant angelehnter Imperativ "Du sollst lieben" umfasst Mensch wie Gott. Doch im Angesicht des Todes ist die irdische Liebe ein "Scherz". Ist sie es aber nicht und wird sie ins Madonnenhafte überhöht, dann ist sie Blasphemie! So sah es Søren Kierkegaard.

Eine gelungene Einführung in sein leidenschaftlich religiöses Denken liefert der Band Wie werde ich ein Christ? Søren Kierkegaard - Texte vom Glauben. Lieben wollte er bedingungslos - die Frauen, das Leben und Gott. Das ist ihm gründlich missglückt. Doch geblieben ist der Mensch Kierkegaard als existenzieller Querdenker, dessen Strahlkraft nichts eingebüßt hat.  (Andreas Puff-Trojan , Album, DER STANDARD, 4./5.5.2013)