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Semiya Simsek, die Tochter des ermordeten Enver Simsek, ist im Prozess als Nebenklägerin vertreten

Foto: EPA/STEPHANIE PILICK

STANDARD: Am Montag beginnt in München der NSU-Prozess. Welche Erwartungen haben Sie?

Simsek: Sie sind sehr gemischt. Einerseits haben wir, also meine Familie und ich, jahrelang auf diesen Prozess gewartet. Wir wollen mit der Sache endlich abschließen. Andererseits ist uns auch klar, dass es für uns alle eine sehr anstrengende Zeit wird.

STANDARD: Im Gericht werden Sie als Nebenklägerin auf Beate Zschäpe treffen. Haben Sie Angst davor?

Simsek: Ich möchte diese Frau sehen, ich will Beate Zschäpe in die Augen schauen. Ich bin gespannt auf ihre Gestik und Mimik, ob sie Reuegefühle hat. Ich möchte auch wissen, ob sie noch zu dieser rechtsextremen Ideologie steht.

STANDARD: Haben Sie Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat - dass dieser Prozess ordentlich abläuft?

Simsek: Nach dem, was mir und meiner Familie passiert ist: eher wenig. Aber ich hoffe, dass jeder Helfer und Helfershelfer bestraft wird, dass noch mehr Hintergründe ans Tageslicht kommen. Und ich denke mir: schlimmer als vor 13 Jahren kann es nicht werden.

STANDARD: Damals, im Jahr 2000, wurde Ihr Vater ermordet.

Simsek: Ich war 13 Jahre alt. Es war schlimm genug, den Vater von einem Tag auf den anderen zu verlieren und nicht zu wissen, wer ihn umgebracht hat. Ich habe mich natürlich auch gefragt: Sind meine Familie und ich auch in Gefahr? Ich hatte massive Verfolgungsängste. Wir hatten all die Jahre danach immer ein Fragezeichen im Kopf.

STANDARD: Sie haben ein Buch geschrieben und schildern, wie Ihre Familie verdächtigt wurde.

Simsek: Jahrelang haben uns die Ermittler Fotoalben gezeigt und die gleichen Fragen gestellt. Kennen Sie den, kennen Sie den? Unserem Vater wurde unterstellt, im Drogenmilieu tätig zu sein. Meine Mutter wurde verdächtigt, ihn aus Habgier gemeinsam mit ihren Brüdern umgebracht zu haben. Fotos von seiner angeblichen Geliebten, die es gar nicht gab, wurden präsentiert. Wir konnten jahrelang nicht in Ruhe trauern.

STANDARD: Ein rechtsextremes Motiv wurde nicht untersucht?

Simsek: Doch. Aber hauptsächlich im türkischen Milieu. Man hat nach Verbindungen zu den Grauen Wölfen geschaut oder zur PKK, aber nicht genug in der rechten Szene in Deutschland.

STANDARD: Ab wann hat Ihre Familie darauf hingewiesen?

Simsek: Ab 2004 waren wir uns sicher. Bis dahin gab es ja schon weitere Morde an türkischen Kleinunternehmern, die allerdings als "Döner-Morde" bezeichnet wurden. Die Ermittler sagten uns immer: 'Keine Sorge, wir verfolgen alle Spuren und haben eine ganz heiße in der Drogenszene.'

STANDARD: 2011 flog der NSU auf. Wie haben Sie davon erfahren?

Simsek: Mein Bruder hat es zufällig im Radio gehört. Dann haben wir uns selbst erkundigt. Erst nach fünf Tagen sind die Ermittler auf uns zugekommen. Als wir die Hintergründe erfuhren, war es - trotz aller Trauer - befreiend. Endlich war klar, was wir immer wussten: Unser Vater war kein Krimineller. Aber ich habe mich danach sehr unsicher in Deutschland gefühlt. Öffentlich entschuldigt hat sich bis heute übrigens kein Ermittler bei uns.

STANDARD: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es bei der offiziellen Trauerfeier im Februar 2012 getan.

Simsek: Das war schon gut. Entschuldigen heißt, dass man einen Fehler einsieht. Aber die 13 Jahre der Verdächtigungen wurden dadurch nicht weggewischt.

STANDARD: Sie haben bei der Trauerfeier sehr emotional gesprochen und bekamen viel Beifall.

Simsek: Ich wollte das für meinen Papa machen und auch allen Menschen zeigen, was wir jahrelang erlitten haben. Wir waren die bösen Opfer, nach dem Motto: Euer Vater hat krumme Dinger gedreht. Nach dem 4. November 2011 (nach dem Auffliegen des NSU, Anm.) waren wir dann die Guten. Da haben wir auch viel Zuspruch von den Deutschen bekommen.

STANDARD: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Deutschland heute?

Simsek: Ich trenne den Mord und mein Verhältnis zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Deutschland ist definitiv meine Heimat, dort fühle ich mich auch wohl. Aber der Mord ist ein Vertrauensbruch. Ich lebe jetzt mit meinem Mann in der Türkei, aber ich schließe nicht aus, eines Tages wieder in Deutschland zu leben. Ich habe keinen Groll gegen Deutschland. (Birgit Baumann, DER STANDARD, 3.5.2013)