Die Piraha-Indianer am Amazonas. Sie zählen nicht.

Foto: Martin Schoeller/Deutsche Verlags-Anstalt 2010

Tanja Paar ist nach 20 Jahren an die Uni zurückgekehrt.

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"Jede invertierbare Matrix ist regulär." Was würden dazu wohl die Piraha-Indianer sagen?, denke ich, während ich in der Mathematikvorlesung sitze. Die Piraha-Indianer sind ein glückliches Volk. Sie leben am Amazonas und können nicht zählen. Das heißt: Sie zählen nicht. Vielleicht könnten sie es, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht.

Der amerikanische Missionar Daniel Everett, ein ziemlich abgedrehter Typ, hat ein spannendes Buch über sie geschrieben (Random House 2008). Sieben Jahre hat er bei dem indigenen Volk verbracht und dabei seinen Glauben verloren, was er, so viel sei hier verraten, nicht bedauert.

Anfangs dachte er, es gebe bei den Piraha die Zahlen eins, zwei und viele, ein System, das man weltweit an diversen Orten findet. Dann fiel ihm auf, dass die Piraha nie die Finger, andere Körperteile oder sonstige Gegenstände zum Zählen verwenden.

Fragten sie ihn, wann das Flugzeug wiederkomme, und er hob zwei Finger, blickten sie völlig verwirrt drein. Außerdem verwendeten sie das Wort, das seiner Meinung nach "zwei" bedeutete, entweder für zwei kleine Fische oder aber für einen größeren Fisch. Das widersprach seiner Auffassung, es müsse "zwei" bedeuten, und verwirrte den guten Hirten.

Dann entwickelte er die Idee, die "Zahl" sei in Wirklichkeit ein Begriff für das relative Volumen: Zwei kleine Fische nehmen denselben Raum ein wie ein großer Fisch. Was, bitte, sagt der Informatiker dazu? Wahrscheinlich gar nichts, geht es in der binären Logik doch immer nur um die Frage Fisch oder nicht Fisch.

Jedenfalls nehmen zwei kleine Fische ungefähr den gleichen Raum ein wie ein mittelgroßer Fisch. Was aber, wenn den Pirahas ein wirklich außergewöhnlicher Fang gelingt und sie einen überaus großen, ja geradezu riesigen Fisch fangen? Das müsste doch zu einem anderen Zahlwort führen, dachte sich Everett. Tut es aber nicht. Ist den Piraha schnurzpiepegal.

Mit seinem dem Missionar eigenen pädagogischen Eifer versuchte er acht Monate (sic!) lang jeden Abend, den Piraha zählen beizubringen. Die fanden das spannend und kamen, jedenfalls seinen Berichten nach, jeden Abend gern zum Unterricht. Nach diesen acht Monaten konnte allerdings kein einziger Piraha von eins bis zehn zählen. Everett schreibt: "Keiner lernte, 3+1 oder auch nur 1+1 zu addieren (jedenfalls, wenn das Schreiben oder Aussprechen der Zahl Zwei als Antwort auf die zweite Aufgabe ein Beleg für das Erlernen ist). Nur gelegentlich traf jemand die richtige Antwort."

Letzteres jedenfalls trifft auch auf die Mathematikvorlesung zu. Dabei könnte alles so einfach sein: "In der Mathematik ist das schön Aufschreiben meist schon die Lösung des Problems", sagt der Vortragende. Vielleicht würden die Piraha rechnen, hätte der Herr Papier vom Himmel regnen lassen. Hat er aber nicht. (Tanja Paar, derStandard.at, 2.5.2013)