Der Immigrationsbeamte am Flughafen Seattle fragt nach dem Grund der Reise. Ob wir Ferien machen oder der Musik wegen gekommen sind. Hier in Seattle hätten Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Quincy Jones und Ray Charles das Licht der Welt erblickt, sagen wir ihm. Hier hat alles begonnen, mit Nirvana und dem Grunge. Und wir fragen ihn: Gibt es den noch? Der Beamte runzelt nur die Stirn, wünscht viel Spaß und winkt uns nach einem Fingerabdruck mit Pupillenfoto durch.
Ende der 1980er-Jahre wurde in der liberalen Metropole im Nordwesten der USA Grunge geboren: Musik angeblich jenseits des Mainstreams, rau und dröh-nend, oft als Mischung aus Punkrock und Heavy Metal beschrieben. Ausdruck einer zornigen Jugend, die sich von ihren Eltern der 1968er-Generation verschaukelt fühlte. Die Band Nirvana, die am 19. März 1988 zum ersten Mal unter diesem Namen auftrat, und ihr Frontmann Kurt Cobain galten als Galionsfiguren dieser desillusionierten Teenager. Bis dahin war Seattle alles andere als eine Musikmetropole, eher ein kulturelles Mauerblümchen im Schatten von Boeing, Microsoft und Starbucks, die hier ihre Unternehmenssitze haben.
Unsere Reise beginnt in der East Pine Street 900. Hier steht der berühmteste Sohn der Stadt: Jimi Hendrix. Eine Bronzestatue zeigt den revolutionären Linkshänder an der E-Gitarre, der keine Noten lesen konnte, aber dessen virtuose Technik Fans in Trance verfallen ließ, in einer verzückten und klischeehaften Rockpose. Das recht kleine Denkmal soll an einen der größten Rockstars erinnern. Jimi Hendrix und Seattle - das war keine Liebe auf den ersten Blick.
Als Anfang der 1980er-Jahre in Seattle ein anderes Denkmal zu Ehren von Hendrix errichtet werden sollte, schlugen die Wellen hoch. Es war die Zeit der "Just say no"-Anti-Drogen-Kampagne. Und einen schwarzen, drogensüchtigen Rockstar öffentlich zu ehren, einen, der zwar Amerika liebte, die Regierung und den Vietnamkrieg aber vehement ablehnte, das hatte damals keine Chance auf Erfolg. Besorgte Stadtvertreter und Fans einigten sich schließlich auf einen bizarren Kompromiss: Im Woodland Park Zoo wurde eine kleine Gedenktafel angebracht. Seitdem prangt dort ein goldener Metallstern zu Ehren von Hendrix im Löwengehege.
Geboren und aufgewachsen ist er in einer Hinterhofbaracke von Seattle. Seine sterblichen Überreste liegen im Vorort Renton. Auf dem Greenwood Cemetery steht das Hendrix Memorial. Es entpuppt sich als hässliches Monstrum aus Marmor. Wir blicken über die weite Rasenfläche, auf der Grabplatten in geometrisch exakter Anordnung liegen. US-Flaggen flattern im Wind und schmücken die Gräber im Irakkrieg gefallener Marines. In der Luft meint man die schmerzenden Akkorde von Purple Haze zu hören.
Subkultur mit Mikrofon
Weiter geht es mit der Subseattle-Tour, die sich selbst als Subkultur-Safari durch Washingtons Hauptstadt versteht. "Seattle ist die kreative Metropole der USA", sagt Lucy Wilma. Mit ihrem Tigerhemd, knallrotem Lippenstift, einer Baskenmütze und Sonnenbrille gibt sie die alternative Stadtführerin. Ab und zu lugt sie frech über die Brillengläser und bearbeitet mit ihrer dunklen Stimme das Mikrofon. Dabei zeigt sie den Besuchern, wo Musiker in Seattle ein und aus gingen: "Sein erstes Album hat Ray Charles im Black Alps Club aufgenommen." Heute fehlt hier jeder Hinweis auf die gar nicht glorreiche Vergangenheit. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte in der Musikergewerkschaft strikte Trennung nach "Rassen". Das führte dazu, dass Schwarze nur in ihren Clubs spielten. "Das war ungeheuerlich, förderte aber auch ein enorm kreatives Potenzial", meint Lucy.
Die Subseattle-Tour macht überall halt, wo es musikalische Anekdoten zu erzählen gibt: Beim Edgewater Hotel am Pier 67 etwa, wo die Beatles 1964 durch das Fenster von Zimmer 272 im trüben Wasser des Puget Sound angelten, oder vor einem ehemaligen Musikgeschäft, in dem Jimi Hendrix Ende der 1960er-Jahre seine erste E-Gitarre kaufte. Dann endlich geht es zum eigentlichen Höhepunkt jeder Tour: Washington Boulevard Ost 171, direkt am Viretta Park.
Hier wohnt Seattles Upperclass. Eine Villa ist extravaganter als die andere. Dazwischen eine kleine Grünanlage, die auf einem Hügel liegt, von dem sich ein wundervoller Blick über den Lake Washington bietet. Aber deshalb sind wir nicht gekommen. Hinter großen Bäumen liegt das ehemalige Anwesen von Kurt Cobain. Eine Holzvilla, wie sie auch Stephen King hätte ersinnen können: dunkel, verlassen und mit Fenstern, die wie tote Augenhöhlen aussehen. Während des Sommers stünden oft Gruppen von zehn bis fünfzehn Leuten stundenlang vor dem verwaisten Haus Cobains und seiner Witwe Courtney Love, erzählt Lucy. Mittlerweile ist es eingezäunt und Privatbesitz. Fans schreiben Liebeserklärungen auf den Zaun und die davor stehenden Bänke, die Latten sind mit Mitteilungen übersät: "Du hast uns im Stich gelassen! Kurt, du hast unser Leben verändert!" Ein gigantisches Gästebuch aus Holz.
Am nächsten Tag geht es mit dem Taxi ins Rathaus. Seit der Demokrat Gregory J. Nichols 2002 zum Bürgermeister gewählt wurde, gehört das Leben der Musiker zum unverzichtbaren Bestandteil des städtischen Marketings. Auch unter dem neuen Stadtoberhaupt Michael McGinn ist das nicht anders, denn Grunge, Hendrix und Co ziehen Touristen aus aller Welt magisch an.
Country Music und Ramstein
Auf dem Weg dorthin hört der Taxifahrer Country Music. Er war als Soldat in Ramstein stationiert. Ob er Grunge kennen würde? - Grunge? Hey, das ist doch diese depressive Kiffermusik! - Und Cobain? - Der Depp hat sich doch umgebracht. Schweigen. Er dreht das Autoradio lauter und wechselt das Thema. In der Nähe liege das berühmteste Hausboot der Welt. Man ahnt, worauf er hinauswill: Schlaflos in Seattle. Sein Schwager hätte das Hausboot, auf dem Tom Hanks den verliebten Witwer gespielt hat, weiterverkauft. Mitten in der Stadt liegt es am Lake Union. Schließlich zückt er eine klebrige Visitenkarte von Schwager Frank, der alles Mögliche sammelt und eben wieder verkauft: Anekdoten, Radios, alte Schallplatten - nur Grunge-Platten nicht. Dann hält das Taxi Downtown.
Im 19. Stock eines Hochhausturmes wartet James Keblas. Der dynamische Endzwanziger ist zuständig für Musikförderung. Keblas ist Direktor des Film and Music Office. "Mein Job ist es, Seattle zur Musikhauptstadt der Welt zu machen", verkündet er etwas großspurig gleich am Anfang des Gesprächs. Trotz der Wirtschaftskrise, die auch Seattle, Boeing und Starbucks erreicht hat, präsentiert der Direktor stolz seine Zahlen in der Art eines Wirtschaftsprüfers: Musik sei hier der dreizehngrößte Industriezweig. 1,2 Milliarden Dollar würde man jährlich mit Musik umsetzen. 9000 Arbeitsplätze wären durch die Musikindustrie geschaffen worden. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Dienstleistungen aller Art: vom CD-Verkäufer bis zum Taxi-Chauffeur, vom Fanartikel-Hersteller bis hin zum Museumskurator reicht die Palette jener, die vom Image der Musikmetropole profitieren. Erst an der Spitze dieser Dienstleistungspyramide finden sich die Künstler wieder; ein-, zweihundert mögen es in Seattle und im benachbarten Portland sein, die den Furor aus alten Grunge-Tagen aufgreifen und in ein neues urbanes Lebensgefühl für die iPod-Generation verwandeln wollen.
Dazu gehört auch ein futuristisch-ko-lossaler Gebäudekomplex: das Experience Music Project, entworfen von Architekt Frank O. Gehry. Das Museum mit seiner fensterlosen, blau und rot schimmernden Oberflächenfassade wirkt wie ein Raumschiff, das sich aus einem anderen Sonnensystem hierherverirrt hat. Finanziert von Microsoft Gründer Paul Allen wird hier die Geschichte der populären Musik erzählt. "Wir sind kein traditionelles Museum", erklärt Jacob McMurray, "man geht hier nicht rein, um Texte zu lesen oder sich Exponate anzuschauen, die an den Wänden hängen. Wir bieten Interaktives!" Der Enddreißiger mit Hipster-Hut und Hornbrille arbeitet als Kurator.
Alles ist hier multimedial, aus allen Ecken tönen Geräusche. Es gibt eine Menge Kuriositäten und Sammlerstücke zu bestaunen, darunter Gitarren von Jimi Hendrix, die berühmte Fender Stratocaster von Kurt Cobain und andere Devotionalien aus der Rock-Vergangenheit Seattles. Das im Jahr 2000 fertiggestellte Museum wird vor allem von Touristen besucht. Und die wollen wissen, warum so viele bekannte Musiker gerade aus Seattle kamen. "In Seattle regnet es viel", lautet McMurrays Theorie, "da hat man schon mal Langeweile, spielt Gitarre, trinkt viel. Daraus kann eine Menge Kreativität entstehen!"
Es ist Abend geworden. Aus Seattle wird eine für US-Verhältnisse untypisch lebendige Stadt. Selbst die streng schachbrettförmig angelegte Downtown ist mit ihren nicht allzu hohen Türmen nach Geschäftsschluss nicht vollkommen ausgestorben. An ihrer Peripherie finden sich Clubs, Diskotheken und Beisln.
Softdrinks unter der Weltraumnadel
Das Nachtleben findet vornehmlich im Bezirk Capitol Hill statt, westlich der Innenstadt gelegen. Unter der Space Needle, dem knapp 200 Meter hohen Aussichtsturm - zugleich Wahrzeichen der Stadt - , ist die Hölle los. Einmal im Jahr ist Bumbershoot-Time, dann versammeln sich im Zeichen des Regenschirms Rock- und Folkmusiker zum Volksfest mit Hot Dogs am Stil, Eislutschern und Softdrinks. Hier besäuft sich kein Fan mit Bier und Schnaps. Hippie-Eltern mit ihrem Nachwuchs sitzen auf Decken, daneben 50- bis 60-Jährige, ganz in Erinnerung an die guten alten Zeiten. Doch das Bumbershoot-Festival ist nicht Wood-stock. Ab 23 Uhr verstummen die letzten Akkorde, friedlich plaudernd verlassen die Fans die Wiesen unter der "Weltraumnadel" und schlendern heim.
Am nächsten Morgen sitzen alle im Schaufenster eines jener Kaffeehäuser, die es in Seattle an fast jeder Straßenecke gibt - von hier aus hat Starbucks seinen Siegeszug rund um die Welt angetreten. Die Kette ist zum Symbol der Globalisierung geworden. Und Grunge? Der darbt im Museum mumifiziert vor sich hin. In Capitol Hill, den innerstädtischen Clubs wird längst Rap, Hip-Hop und Techno ge-spielt. Nicht einmal Cobains Asche ist mehr da, wo sie hingehört: Courtney Love hatte die sterblichen Überreste ihres Mannes zu Hause in der Villa aufbewahrt. In einer rosafarbenen Plüschtasche, versteckt in einem Kleiderschrank. Ein unbekannter Dieb hat sie vor Jahren zusammen mit Schmuck und Designerkleidung gestohlen. Grunge is wirklich dead. (Michael Marek, DER STANDARD, 3.5.2013)