Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass Migranten öfter auf der Straße oder im Park anzutreffen sind.

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Es geht die Sage um, dass bestimmte Politiker und Politikerinnen "neulich" bei einem Feuerwehrfest/Maibaumaufstellen/Parteitag in einem kleinen Ort in Wurschtistan in Österreich waren und sich dort "mit den Leuten unterhalten haben". Und "die Leute", "die Omas" erzählten ihnen, wie sich das Grätzel/der Bezirk/das Dorf, in dem sie leben, im Lauf der Jahre verändert hat. Wie viele "fremde Gesichter" heute auf der Straße unterwegs seien. Dass der Greißler um die Ecke zugemacht habe und dort jetzt stattdessen ein Kebabstand sei. Und vor allem: dass ihnen das Sorgen und Angst mache.

Wie bei jeder Sage ist auch bei dieser ständig in Interviews und Diskussionssendungen von Dobernigs, Vilimskys und Gudenussen recycelten Gutenachtgeschichte ein Dorn (!) Wahrheit enthalten. Stadtteile, Bezirke und ganze Dörfer verändern sich. Und Veränderungen machen (älteren) Menschen Angst, und ein ständiges Beschwören dieser brandstiftet Unbehagen. Der Mensch ist eben ein gewöhnliches Tier.

Herr Grantelhuber ist weg!

Dass der Greißler zugemacht hat, weil "die Oma" seit den Neunzigern lieber zum Billa einkaufen geht als zum Herrn Grantelhuber in seinem früher engen und unüberschaubaren, heute nostalgischen Retro-Raum, lassen wir beiseite. Auch die Tatsache, dass dieser einfach eines Tages das Schloss zum 21. Jahrhundert gesperrt hat und gegangen ist und nicht besetzt und dann gewaltsam vertrieben wurde von den Besitzerinnen des indischen Brautmodengeschäfts - die lassen die Sagenerzähler mystischerweise aus.

Widmen wir uns genauer dieser perpetuierten Vorstellung davon, es gebe einen tatsächlich allen Ernstes auch "Umvolkung" genannten "Bevölkerungsaustausch" aufgrund von Migration. Übrigens ein Meta-Euphemismus - wessen totalitäre Spezialität das war, wissen wir alle, die Verschachtelung kann man nur als Potenzierung der Böswilligkeit interpretieren.

Die Bevölkerung Österreichs setzt sich zu 18,9 Prozent aus Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund zusammen. Jämmerlich - da sind die Pensionierten im Match weit vorne mit 26,9 Prozent. Aber wir wollen ja keine Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen! In Chicago - pardon, ich meinte in Wien, der Stadt mit dem höchsten Migrantenanteil österreichweit, liegt der "Invasionsgrad" bei 38,4 Prozent. Und sogar in Rudolfsheim-Fünfhaus, dem 15. Bezirk Wiens und jenem mit dem größten Migrantenanteil im Lande, kommen die Migranten auf keine absolute Mehrheit: Überall sind also die fiktiven Erzählerinnen aus den von Politikern heimgesuchten Dorffesten in der Mehrheit.

Aber woher, trotz deutlich dagegen sprechender Zahlen, dann trotzdem die subjektive Wahrnehmung, auf Österreichs Straßen seien nur mehr Türkinnen, Albaner und Tschetschenen (das sind die Bösen, übrigens, im Gegensatz zu den katholischen Polen und Kroaten und den potenziellen serbischen Wählern) unterwegs? Woher kommt der Eindruck, dass diese "unseren Stammplatz", "unsere Lieblingsbank" und "unseren Park" weggenommen hätten?

Ab in den "Tschuschenkäfig"

Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass Migranten öfter auf der Straße oder im Park anzutreffen sind. Migranten haben statistisch gesehen schlechtere Jobs, ein niedrigeres Einkommen und daher einen niedrigeren Wohnungsstandard. Möglicherweise spielt auch das Phänomen eine Rolle, sich in Österreich gar keinen Wohnungsluxus leisten zu wollen (man baut ja eh "unten", "daheim" an einem Haus): ein Relikt aus dem Gastarbeiterdenken. Junge Migranten und Migrantinnen fliehen aus den engen Wohnverhältnissen in den etwas abwertend (oder selbstironisch, wer weiß das heute noch) so genannten "Tschuschenkäfig": von einem Käfig in den anderen.

In einem Fazit zu diesem Text vorzuschlagen, die "autochthonen Österreicher" sollten sich nicht so fürchten (das schickt sich für eine so noble Nation nicht!) und die Straßen zurückerobern, wäre fahrlässig - ein Hinweis auf lokale pubertäre Parkkämpfe ("Was macht ihr hier? Das ist unser Park!") käme nur zu Recht schnell als Gegenargument. Was aber zu verstehen und vielleicht von neuen, moderneren Geschichtenerzählern zu vermitteln bleibt: dass jemand, der sichtbar ist, der rein materiell auf der Straße ist, nicht sofort eine Bedrohung darstellt. Und dass Veränderungen im Stadtbild normale und durchaus fruchtbare Vorgänge sind. Wir müssen einen Weg finden, gemeinsam auf diesen Straßen zu gehen. (Olja Alvir, daStandard.at, 30.4.2013)