Wien - Die Eigenschaft von Ereignissen, in der Vergangenheit zu versinken, ist eine Provokation für Choreografen. Denn nach jeder Aufführung "verschwinden" auch ihre Werke. Ein Zusammenschluss aus vier Tanzschaffenden mit einem bildenden Künstler und die Choreografin Christine Gaigg haben im Rahmen von Feedback, einem Kurzfestival des Tanzquartier Wien, mit zwei Uraufführungen auf diese Verluste reagiert.

Milli Bitterli, Philipp Gehmacher, Anne Juren, Paul Wenninger und Roland Rauschmeier brachten performative Readymades als Mash Up auf die Bühne der TQW-Halle G. Und Gaigg zeigte ihr neues Stück DeSacre! - auf Einladung von Bundespräsident Heinz Fischer - in der Josefskapelle der Wiener Hofburg.

Es gibt eine brutale Parallele zwischen dem skandalträchtigen Tanzstück Le Sacre du printemps von 1913 und einer Protestaktion der Frauengruppe Pussy Riot in der Moskauer Erlöserkathedrale im Vorjahr. Knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs inszenierten der Komponist Igor Strawinsky und die Truppe der Ballets Russes die Geschichte einer Frau, die von einer Männergesellschaft in den Tod gehetzt wird. Und jüngst war es wieder eine Männergesellschaft, diesmal als unheilige Allianz aus Kirche und Staat, die Frauen nach einem harmlosen Protestauftritt hetzten.

Christine Gaigg hat DeSacre! als Doku-Performance angelegt, in der Le Sacre, dessen Originalchoreografie von Vaclav Nijinsky verloren ist, mit dem Tanz der Pussy-Riot-Gruppe verschränkt wird. Während der Aufführung kommentiert Gaigg zusammen mit dem Autor Erich Klein das Geschehen. Pussy Riot hatte ein musikalisch bearbeitetes Video ihrer Aktion ins Netz gestellt. Als ausgewiesene Filmexpertin untersuchte Gaigg dieses Material und stellt den Auftritt Szene für Szene nach. So beweist sie, dass sich die Frauen in der Kathedrale völlig gewaltfrei verhalten haben. Die Choreografin hat die Arbeit von Nijinsky nicht rekonstruiert, sondern ihrer verlorenen Form mit aktuellem, brisantem Inhalt eine neue Sprache verliehen. Das ist eine wirkliche Leistung.

Ähnliches ist auch Bitterli, Gehmacher, Juren, Wenninger und Rauschmeier gelungen. Ihr Mash Up ist allerdings ein politischer Akt ästhetischer Natur. Denn die Künstler haben es zustande gebracht, vier bestehende, eigenständige Choreografien als "Readymades" wiederzuerstellen und miteinander zu verschränken. Herausgekommen ist eine ganz neuartige Arbeit, in der künstlerische Kooperation über dem Ego des Autors steht. Das Ergebnis: eine überragende, sozusagen "vierdimensionale" Choreografie.  (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 27./28.4.2013)