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Mit jedem neuen Fall einer Vergewaltigung, die in Indien publik wird, protestieren tausende Menschen gegen Behördenwillkür.

Foto: AP Photo/ Saurabh Das

Rubina Möhring von Reporter ohne Grenzen traf Ranjana Kumari, eine Ikone der indischen Frauenrechtsbewegung, und befragte sie zu den jüngsten Entwicklungen.

STANDARD: Indien macht seit Monaten Schlagzeilen mit brutalen Vergewaltigungsfällen. Auf der anderen Seite ist gerade Indien bekannt dafür, dass Frauen in Politik und Wirtschaft Karriere machen können. Ein paradoxer Widerspruch?

Kumari: Das hängt vom Blickwinkel ab. Keine Frage, das Patriarchat bestimmt maßgeblich alle Klassen unserer Gesellschaft. Bildung und die Öffnung des Arbeitsmarkts ermöglichten spätestens mit Beginn dieses Jahrhunderts viele neue Wege und eine unvergleichbar größere Mobilität.

STANDARD: Inwiefern profitieren Frauen von dieser Entwicklung?

Kumari: Viele nehmen diese Chancen inzwischen wahr und machen Karriere. Zugleich ist die indische Gesellschaft extrem patriarchalisch. Selbst erfolgreiche Frauen werden noch immer von ihren Eltern verheiratet und fügen sich diesem Verdikt. An die 95 Prozent aller Ehen werden von den Familien arrangiert. Laut offiziellen Statistiken sind dabei 47 Prozent - also fast die Hälfte - sogenannte Kinder-Ehen, bei denen vor allem die Mädchen minderjährig sind. Von Gleichberechtigung kann da keine Rede sein. Hinzu kommt das Gefälle zwischen Stadt und Land, reich und arm, gebildet oder ungebildet. Und vor allem natürlich das Kastensystem. Auch in der Mittelschicht gilt nach wie vor der Grundsatz: Investiere alles in Ausbildung und Zukunft deiner Söhne. Immerhin, langsam beginnt bei manchen ein Umdenken zugunsten der Töchter.

STANDARD: Signalisieren die jüngsten Vergewaltigungsfälle einen Rückfall in die Zeiten altvertrauter Frauenmissachtung?

Kumari: Nein. Jeden Tag werden in Indien Frauen und Kinder vergewaltigt. Jährlich verschwinden in Indien an die 40.000 Kinder. Seit Jahresbeginn wissen wir allein in Neu-Delhi von rund 150 Fällen. Die meisten Übergriffe passieren in den Slums, der elenden Endstation landflüchtiger Familien, die der trügerischen Hoffnung auf städtischen Wohlstand erlegen sind. Meist sind es dort frustrierte Jugendliche, Nachbarn oder Verwandte, die die Ausweglosigkeit ihres Lebens mit sexueller Gewalt kompensieren.

STANDARD: Im Dezember 2012 wurde nicht in den Slums, sondern unweit Ihres Instituts eine Studentin in einem Bus brutal vergewaltigt.

Kumari: Ich erinnere mich noch genau an den 16. Dezember. Es war gegen 21.30 Uhr, gleich hier in der Nelson Mandela Street. Ich habe schon viele Vergewaltigungsopfer betreut, aber das war eines meiner schrecklichsten Erlebnisse. Die junge Frau und ihr Freund lagen nackt am Straßenrand, niemand half ihnen, der Bus war verschwunden, die Polizei nicht wahrnehmbar, niemand wusste, welche Sicherheitsstation überhaupt zuständig war. Wir haben sofort eine erste Demonstration und für den folgenden Abend ein Lichtermeer organisiert. Auch die Medien haben wir aktiviert.

STANDARD: Wie wurde darüber in Indien berichtet?

Kumari: Die Medien waren überaus hilfreich, den Fall in die Öffentlichkeit zu bringen. Schon am selben Abend haben sie sachlich und verantwortungsvoll erste Berichte darüber gebracht. Am nächsten Morgen war der Vorfall bereits eine der Top-News, auch in der internationalen Presse.

STANDARD: Wie hat sich der Fall zu einer landesweiten Protestwelle entwickeln können?

Kumari: Ich nehme an, die Studenten waren auch deshalb so betroffen, weil sie erkennen mussten, dass sie selbst ihren Freundinnen keinen Schutz mehr bieten, dass auch sie Opfer sein können. Diese enorme Anteilnahme ist auch Zeichen für einen generellen Gesinnungswandel jenseits vorgegebener Denkmuster. Noch nie zuvor habe ich jemals so viele junge Menschen bei Protestaktionen erlebt. Studentinnen und Studenten, junge Frauen und Männer, die einfach nicht bereit waren, solche Vorfälle weiterhin zu tolerieren.

STANDARD: Warum wurde ein Einzelfall gesellschaftlich so relevant?

Kumari: Vergewaltigungen sind auch eine Frage gesellschaftlicher Mentalität. Männer üben durch Sexualverbrechen Macht über Frauen aus. Sie missbrauchen Frauen, um sie einzuschüchtern und eigene Frustrationen abzubauen. Vergewaltigungen sind bekanntlich immer ein Instrument der Kontrolle, eine Praxis, die ja auch in Kriegen geübt wird. Uns war es wichtig, dass im Endbericht hervorgehoben und unterstrichen wurde, dass die Schande nicht bei den Opfern liegt. Vergewaltigungen sind ein Angriff auf die physische und psychische Integrität der Frauen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass diese Frauen nicht nur billig bemitleidet werden, sondern dass die Täter dingfest gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden.

STANDARD: Welche Bedeutung hat dieser Vorfall für die indische Gesellschaft?

Kumari: Trotz aller Grausamkeit war dieser Tag ein historisches Ereignis. An diesem Sonntag war die Gewalt eskaliert, hatte ihren Höhepunkt erreicht. Zugleich hat der 16. Dezember eine starke Symbolkraft für erste, nachhaltige Signale eines gesellschaftlichen Umdenkens. Die junge Generation demonstrierte deutlich: "Es reicht, wir wollen das nicht mehr." Viele Frauen sind seitdem selbstbewusst genug, Schandtaten anzuzeigen. Vergewaltigungen sind kein Tabuthema mehr. Betroffene und die Familien schweigen nicht mehr aus Scham. Und: Die Polizei steht unter großem Druck. Dank eines neuen Gesetzes wird unterlassene Aufklärung strafrechtlich verfolgt und mit bis zu zwei Jahren Gefängnisstrafe geahndet.

STANDARD: Sie gelten als Initiatorin jener neuen Gesetzgebung, die Hilfestellung bei Sexualverbrechen vorschreibt.

Kumari: Wir haben gemeinsam mit anderen Organisationen jene Empfehlungen und Entwürfe ausgearbeitet, die als Grundlage für das Gesetz dienten. Ergänzend möchte ich jedoch betonen: Wir hatten nicht damit gerechnet, dass jetzt sogar auch sexuelle Übergriffe jedweder Art Teil der politischen Agenda werden würden.

STANDARD: Was ist mit "jedweder Art" gemeint?

Kumari: Im April hatte ich zum Beispiel in Anwesenheit von Journalisten mit einer Gruppe von Dorfbewohnerinnen gearbeitet. Die Frauen erzählten mir, ein Minister hatte ihren Ort besucht. Ihm wurden zwei Mädchen vorgestellt, die zufällig denselben Vornamen trugen. Sein "scherzhafter" Kommentar: "Man kauft also eine und bekommt die zweite kostenlos als Zugabe." Auch sonst sparte er nicht mit sexistischen Anspielungen. Die Medien berichteten darüber, der Minister musste seinen Hut nehmen.

STANDARD: Ist die indische Gesellschaft auf eine offene Diskussion über Sexualität vorbereitet?

Kumari: Bei diesem Thema ist viel Scheinheiligkeit mit im Spiel. Selbst Sexualunterricht in den Schulen wird von vielen strikt abgelehnt. Unsere Gesellschaft ist für Pornografie und freie Sexualität noch nicht bereit. Buben und Mädchen gehen in getrennte Schulen. Viele werden erst, nachdem sie verheiratet wurden, zum ersten Mal in ihrem Leben mit Sex konfrontiert. Das führt zu einer völlig verkrampften Lebenseinstellung.

STANDARD: Ihre Ziele für die Zukunft?

Kumari: Unsere Gesellschaft ist sehr jung, die Hälfte der Bevölkerung ist knapp 35 Jahre alt. Das Patriarchat ist also eine Frage des Generationenwechsels, deswegen arbeiten wir vor allem viel mit Jugendlichen, aber auch mit Beamten. Das Ende des Tages ist allerdings noch lange nicht in Sicht. Mein Ziel ist eine grundlegende Veränderung der indischen Gesellschaft und deren Mentalität. Anders gesagt, gewaltlose Gleichberechtigung - nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen den sozialen Klassen. Hierfür muss man schon bei den Kindern anfangen. Manches ist, zumal seit dem 16. Dezember, schon gelungen. In toto ist dies jedoch in diesem großen, widersprüchlichen Land in all seiner Komplexität ein gesellschaftspolitisches Himalaja-Massiv. In Europa nennt man das wohl Sisyphus-Arbeit. (Rubina Möhring, DER STANDARD, 26.4.2013)