Insassen von Trent Park: Das Anwesen nördlich von London diente als Speziallager für hochrangige Kriegsgefangene, darunter auch der in Wien geborene Kapitän zur See Paul Meixner (sitzend, 2. von rechts). Die Räume des Lagers wurden vom britischen Geheimdienst abgehört. Die Protokolle werden nun von Historikern untersucht.

Foto: Bundesarchiv

Menschen, die eine Extremsituation er- und überleben, haben unmittelbar nach dieser Erfahrung ein gesteigertes und noch unkontrolliertes Mitteilungsbedürfnis. Davon waren zumindest die alliierten Nachrichtendienste überzeugt, als sie spezielle Kriegsgefangenenlager mit neuester Abhörtechnik ausstatteten. So wurden auf der Jagd nach kriegsrelevanten Informationen unzählige Gespräche deutscher, österreichischer und italienischer Kriegsgefangener belauscht, schriftlich festgehalten und ausgewertet.

Rund 20.000 Abhörprotokolle auf mehr als 120.000 Seiten sind zwischen 1940 und Kriegsende auf diese Weise entstanden und lagern heute in Londoner und Washingtoner Archiven. Ein Schatz für Historiker, die über dieses Material erstmals einen Eindruck von der damaligen Sicht der beteiligten Soldaten auf den Zweiten Weltkrieg gewinnen können.

Niemals konnten sich diese so unbefangen über ihre Kriegserlebnisse austauschen wie in der Gefangenschaft: Während des Krieges drohten bei allzu großer Offenheit die Militärjustiz und Denunziation, in der Nachkriegszeit hatte man sich an die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Tabus zu halten. Um herauszufinden, was die gefangenen Wehrmachtssoldaten tatsächlich über die NS-Verbrechen wussten und wie die Österreicher unter ihnen zum "Dritten Reich" standen, haben sich Wissenschafter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft in Wien an die Durchforstung der Aussagen von an die 10.000 Wehrmachtssoldaten gemacht.

Ein zentrales Thema des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts unter der Leitung von Gerhard Botz ist die Gegenüberstellung österreichischer, deutscher und italienischer Gefangener hinsichtlich ihrer Kriegswahrnehmung.

Kaum Kritik an den Gräueln

Während sich Kooperationspartner in Deutschland und Italien mit den abgehörten Gesprächen ihrer Landsleute beschäftigen, kann Projektmitarbeiter Richard Germann bereits einiges über die belauschten Österreicher berichten: "Was mich überrascht hat, ist die große Akzeptanz der deutschen Wehrmacht als Institution auch bei den österreichischen Soldaten", sagt der Historiker. "Obwohl sie zumindest in groben Zügen über die begangenen Gräuel Bescheid gewusst haben müssen, gab es kaum grundsätzliche Kritik. Auch bekommt man nicht den Eindruck, dass sich die Österreicher mehrheitlich in diese Kriegsmaschinerie hineingezwungen fühlten."

Aus vielen Gesprächen geht hervor, dass man durchaus über die Existenz von Konzentrations- und Vernichtungslagern wusste. So erzählt etwa ein SS-Hauptscharführer aus Vorarlberg (der den Namen von Auschwitz nicht richtig aussprach): "Ich kenne das Konzentrationslager [T]Auschwitz (... ), ich kenne es so vom Hören und Sagen. Man sieht es nämlich, es ist ein Judenlager da, da haben sie Baracken, das kannst du von der Bahn aus sehen. Dann habe ich eben erzählen gehört, dass da das Krematorium ist. Also wer in dieses Lager reinkommt, kommt nicht mehr lebend raus."

Kaum einer der Gefangenen gab an, Augenzeuge oder gar Beteiligter der systematischen Judenvernichtung geworden zu sein, die meisten sagten, sie hätten es nur von Dritten gehört. "Ob dies allerdings den Tatsachen entspricht, ist durch die Aufarbeitung militärischer Lebensläufe noch zu klären", sagt Richard Germann. Bei einer Person zumindest konnte der Forscher bereits nachweisen, dass sie in einer Einsatzgruppe zur Vernichtung von Juden war, von deren Verbrechen er sehr wahrscheinlich also nicht wie behauptet nur aus Erzählungen anderer wusste. Die eigene Beteiligung an der Tötung von Zivilisten wird in den Gesprächen mit Kameraden nur selten zugegeben.

Angst vor Rache

"Angesichts von 1,3 Millionen Österreichern in der deutschen Wehrmacht sind die abgehörten Gespräche von etwa 200 Personen zwar nicht repräsentativ, geben aber doch einen gewissen Eindruck von verbreiteten Haltungen und Wahrnehmungen österreichischer Soldaten während des Krieges", ist Germann überzeugt. Auch wenn Gewalt gegen Zivilisten, wie aus den bisherigen Untersuchungen hervorgeht, mehrheitlich (zumindest verbal) abgelehnt wurde, war den Soldaten weitgehend bekannt, dass deutsche Wehrmachtsangehörige vor allem an der Ostfront und auf dem Balkan schreckliche Massaker an der Bevölkerung verübten. Daraus resultierte die häufig geäußerte Hoffnung, dass Deutschland schon deshalb den Krieg gewinnen müsse, damit diese Verbrechen nicht ans Tageslicht kommen.

Vor einem Sieg der Roten Armee hatte man auch deshalb große Angst, weil diese mit den eigenen Zivilisten aus Rache - so die Befürchtung - das Gleiche machen würde wie deutsche Soldaten mit der russischen Bevölkerung. "Vor allem nach der Niederlage von Stalingrad war das ein wiederkehrendes Thema", sagt Germann. "Die Soldaten wussten, dass von der Wehrmacht schlimme Verbrechen begangen worden waren, und fürchteten bei einer Niederlage um die eigenen Angehörigen."

Ein anderes häufig angesprochenes Thema war die mögliche Untreue der allein zurückgelassenen Frauen und Freundinnen. Da auf vielen Bauernhöfen und in Fabriken Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt wurden, mit denen die Frauen in Kontakt kommen könnten, nagte an vielen Soldaten eine ständige Ungewissheit.

Während die amerikanischen Abhörprotokolle mit den Namen und Lebensläufen der Soldaten versehen wurden, geht aus den britischen nur hervor, wann und wo ein mit Chiffre gekennzeichneter Soldat gefangengenommen wurde. Um den einzelnen Aussagen konkrete Personen zuordnen zu können, müssen die Forscher also aufwändige Detektivarbeit leisten, indem sie die aus den Protokollen ermittelten Daten mit den Personalunterlagen der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin abgleichen. Bis jetzt konnten rund 30 derartige Zuordnungen nachgewiesen werden.

Besonders freut die Forscher, dass sie sogar einen der Abgehörten ausfindig machen und interviewen konnten. "In drei weiteren Fällen haben wir von Angehörigen Dokumente bekommen, darunter sogar ein Tagebuch. Damit können wir vergleichen, was dieser Soldat in der Gruppe gesagt und was er parallel dazu in sein Tagebuch geschrieben hat." (Doris Griesser, DER STANDARD, 24.04.2013)