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Der mutmaßliche Attentäter Dschochar Zarnajew war vergangene Woche schwer verletzt verhaftet worden. Laut Medienberichten ist er mittlerweile ansprechbar.

Foto: Reuters/LUCAS JACKSON

Boston - Das FBI muss sich auf kritische Fragen zu den mutmaßlichen Attentätern in Boston einstellen. Denn bereits 2011 hatte das FBI Tamerlan als radikalen Islamisten im Visier. Wie das FBI nach der Festnahme mitteilte, hatte die Bundespolizei ihn auf Wunsch einer ausländischen Regierung überprüft. Laut US-Medien bestätigte die Behörde inzwischen, dass es sich dabei um Russland gehandelt hatte. Das Ersuchen habe sich auf Informationen gestützt, wonach Tamerlan dem radikalen Islam anhänge und sich von 2010 an drastisch verändert habe.

Zuletzt habe er Vorbereitungen getroffen, die USA zu verlassen, um sich Untergrundgruppen in Russland anzuschließen, hieß es. FBI-Agenten verhörten damals ihn und Familienangehörige. Das FBI kam 2011 zu dem Schluss, dass Tamerlan in keinerlei "terroristische Aktivität" verwickelt sei. Weiteren Kontakt habe es nicht gegeben.

Ermittlungen nicht wieder aufgenommen

Die Bundespolizei nahm ihre Untersuchungen allerdings nicht wieder auf, als Zarnajew im Sommer 2012 von einer sechsmonatigen Reise nach Dagestan und Tschetschenien in die USA zurückkehrte, wie Mitarbeiter einräumten. Nach Recherchen des investigativen Reporternetzwerks "Pro Publica" und der "New York Times" hatte sich Zarnajew nach seiner Rückkehr sichtbar radikalisiert. Auf der Internetplattform Youtube stellte er islamistische Videos ein. Wie CNN am Sonntag meldete, war darunter auch das Video eines tschetschenischen Jihadisten. Unklar sei, ob es einen Kontakt zwischen beiden Männern gab.

Dschochar antwortet schriftlich

Der überlebende zweite mutmaßliche Bombenattentäter des Boston-Marathons, Dschochar Zarnajew, ist laut Medienberichten am Sonntagabend im Krankenhaus aufgewacht. Er antworte in seinem Krankenbett schriftlich auf Fragen der Ermittler, berichtete unter anderem "USA Today" online. Sie bezog sich auf anonyme Aussagen eines Fahnders. Zu einer Anklage durch einen Bundesrichter kommt es den Medienberichten zufolge möglicherweise bereits am Montag.

Zarnajew wird im Beth Israel Deaconess Medical Center von Boston unter anderem wegen einer schweren Schusswunde am Hals behandelt und kann nicht sprechen. Der 19-Jährige werde beatmet und stehe unter Beruhigungsmitteln. Zuvor hatte es geheißen, es könne noch Tage dauern, bis er vernehmungsfähig sei. Der TV-Sender ABC News meldete, die Ermittler konzentrierten sich bei ihrem ersten Verhör auf die Frage, ob es noch weitere Komplizen oder versteckte Sprengsätze gebe. Derzeit scheine es, als hätten die beiden Brüder alleine gehandelt, berichtet die "New York Times".

Verlesung der Anklagepunkte am Krankenbett

FBI-Fahnder mutmaßten, dass der 19-Jährige sich die Schusswunde am Hals selbst zugefügt haben könnte, um sich vor seiner Ergreifung durch die Polizei am Freitag das Leben zu nehmen. Zarnajew liegt unter schwerer Bewachung in der Klinik, in der auch elf der Opfer des Attentats vom vergangenen Montag liegen. Rund 40 weitere Verletzte werden noch immer in anderen Krankenhäusern der Stadt im Bundesstaat Massachusetts behandelt.

Der junge Mann soll nach Aussagen der Ermittler von einem Bundesrichter angeklagt werden. Da er sich in einem derart kritischen Zustand befinde, werde der Richter oder ein Vertreter ihn an seinem Krankenbett über die Anklagepunkte informieren. Die Anklageverlesung werde dann später erfolgen.

Todesstrafe möglich

Der Verdächtige muss mit der Todesstrafe rechnen. Massachusetts hat sie zwar abgeschafft, die USA als Staat aber nicht. Der TV-Sender CNN zitierte einen Beamten aus dem Justizministerium mit den Worten, Zarnajew müsse sich wohl nach Bundesrecht wegen Terrorismus verantworten und nach Landesrecht wegen Mordes. Es gibt auch die Forderung des republikanischen Senators John McCain, wonach Zarnajew als "feindlicher Kämpfer" eingestuft werden sollte. Dann würde sein Fall nicht mehr vor einem Strafgericht verhandelt werden, auch seine Rechte wären maßgeblich beschnitten.

Verlesen seiner Rechte

Streitpunkt war auch, ob er bei seiner ersten Anhörung ein Recht zu schweigen oder auf einen Anwalt habe. Das Justizministerium hatte vorläufig entschieden, ihn ohne diese "Miranda-Rechte" zu vernehmen. Demnach müssen Verdächtige vor ihrer Vernehmung durch die Polizei darauf hingewiesen werden, dass alle ihre Aussagen gegen sie verwendet werden können, dass der Betreffende das Recht hat zu schweigen und dass auf Wunsch ein Anwalt zugegen sein muss. Durch diese Maßnahmen soll der Verdächtige davor geschützt werden, sich selbst zu belasten.

Geständnisse, die ohne das Verlesen dieser Rechte zustande kommen, sind im Regelfall nicht vor Gericht zu verwerten. Es gibt allerdings Ausnahmen: Zum Schutz der "öffentlichen Sicherheit" kann der Beschuldigte schon vor dem Verlesen seiner Rechte befragt werden, die Aussagen dürfen dann auch gegen ihn verwendet werden. Genau auf diese Ausnahme berufen sich die Ermittler derzeit. 

Weitere Anschläge geplant

Die mutmaßlichen Bombenattentäter des Boston Marathons planten nach Auffassung der Ermittler womöglich noch weitere Anschläge. Wie der Bostoner Polizeichef Ed Davis am Sonntag dem TV-Sender CBS sagte, hätten die Beamten im Rahmen ihrer Verfolgung der beiden Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew ein ganzes Arsenal hausgemachter Bomben und Materialien sichergestellt. "Wir haben auf Basis der gefundenen Beweise allen Grund zu der Annahme, dass sie noch weitere Menschen attackiert hätten", so Davis. Bei dem Anschlag am vergangenen Montag waren drei Menschen getötet worden - unter ihnen ein achtjähriger Bub. Rund 180 Läufer und Zuschauer wurden verletzt.

Schweigeminute am Montag

Genau eine Woche nach dem Anschlag waren die Bewohner von Massachusetts am Montag aufgerufen, der Opfer zu gedenken. Bostons Bürgermeister Thomas Menino und Gouverneur Deval Patrick riefen zu einer Schweigeminute um 20.50 Uhr (MESZ), dem Zeitpunkt der Explosionen, auf. Anschließend sollen in ganz Massachusetts die Kirchenglocken läuten. (APA/red, derStandard.at, 22.4.2013)