Dominika und Josef leben in einer Altbauwohnung im Grazer Univiertel.

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Seit 13 Jahren sind die beiden zusammen, haben aber immer wieder auch Beziehungen zu Dritten.

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Das Konzept der Polyamorie funktioniert für das Paar, weil sie auf Mitfreuen mit dem anderen statt auf Eifersucht setzen.

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Laut dem Wiener Psychotherapeuten Erik Zirka wird es in Zukunft mehr polyamoröse Partnerschaften geben. Gesellschaftliche Norm wird aber die Zweierbeziehung bleiben.

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Die Vertrautheit zwischen Josef und Dominika lässt keinen Zweifel daran, dass sie zusammengehören. "Zwischen uns gibt es eine tiefe, unbeschreibliche Verbindung", sagt Josef. Dieses Band ist aber nicht der einzige Grund, wieso die Beziehung zwischen ihnen seit 13 Jahren so gut funktioniert. Abseits der trauten Zweisamkeit leben die beiden auch Liebesbeziehungen zu anderen Partnern. Man nennt dieses Beziehungsmodell Polyamorie.

Konsensuale Mehrfachlieben

Übersetzt heißt das "viele" (poly) "Lieben" (amores). Dabei können mit dem Wissen und dem Einverständnis aller Beteiligten emotionale und sexuelle Beziehungen zu mehreren Menschen gleichzeitig gelebt werden. Die geräumige Altbauwohnung von Dominika und Josef im Grazer Univiertel ist ein beliebter Treffpunkt frei denkender Menschen sowie der Poly-Szene in Graz.

Mittelpunkt der Wohnung ist ein etwa 25 Quadratmeter großer Raum, in dem - abgesehen von ein paar Regalen - das einzige Möbelstück ein ebenerdiges Doppelbett in der linken Ecke des Raumes ist. Der gesamte Boden ist mit einem weißen, flauschigen Teppich bedeckt. Buntes Licht erfüllt den Raum. Barfuß und in gemütlicher Alltagskleidung haben es sich Dominika und Josef auf dem Teppich gemütlich gemacht.

Alternatives Beziehungsmodell

"Wenn ich in einer Beziehung bin, will ich frei sein", sagt Dominika. Bereits beim Kennenlernen war für sie und Josef klar, dass sie keine monogame Partnerschaft eingehen wollen. Während Josef bereits in seiner vorhergehenden Beziehung polyamorös gelebt hat, war diese Art von Lebensgemeinschaft für Dominika neu.

Glücklich war sie in monogamen Beziehungen aber nie, die meisten dieser Verbindungen dauerten daher nicht länger als vier Wochen. Als Josef ihr das Beziehungssystem beim ersten Treffen erklärte, war sie sofort von der Idee begeistert und ist es bis heute. "Polyamorie ist eine Herausforderung, bei der mir ein Leben lang nicht langweilig wird", erzählt Dominika.

Unabhängiges Liebesglück

Die gewährten Freiheiten waren zunächst vor allem sexuelle. Im Laufe der Jahre haben Dominika und Josef aber beschlossen, sich anderen Menschen auch emotional zu öffnen und Beziehungen mit ihnen einzugehen - ohne dabei jemals ihre eigene Partnerschaft infrage zu stellen.

Laut der Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Karoline Boehm ist Polyamorie eine Möglichkeit, mit dem steten Wandel von Liebesbeziehungen und Familienstrukturen umzugehen. "Um heute zu wissen, dass es die eine Liebe fürs Leben nicht gibt, muss man nicht besonders aufgeklärt sein", sagt Boehm. Daher sei es das Konzept von polyamorösen Menschen, das eigene Liebesglück nicht von einer einzigen Person abhängig zu machen.

Gesellschaftlich konstruierte Norm

Auch monogame Menschen würden immer wieder Interesse an dem Beziehungsmodell zeigen. "Viele finden die Idee gut, können sich aber nicht vorstellen, selbst so zu leben", sagt Dominika. Denn noch immer exisitiere - ungeachtet der hohen Scheidungsraten - das Idealbild der romantischen Zweierbeziehung, die bis ans Lebensende hält.

Evolutionsforscher wie der Wiener Karl Grammer gehen davon aus, dass polygames Verhalten bei Menschen ursprünglich für das Überleben notwendig war, damit die menschlichen Gene überleben konnten. Allerdings lasse sich die richtige Beziehungsform nicht nur von der Natur des Menschen ableiten, so Grammer.

Einen ähnlichen Zugang hat der Wiener Psychotherapeut Erik Zika, der weiters davon ausgeht, dass Beziehungssysteme einen soziokulturellen Hintergrund haben: "Monogamie ist eine gesellschaftlich konstruierte Norm und die Polyamorie eine bewusste Opposition dazu."

Hinterfragen der monogamen Monopolstellung

Der Polyamorist Josef ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass der Mensch nicht von Geburt an monogam ist. Viel eher werde uns die Vorstellung einer exklusiven Zweierbeziehung von diversen gesellschaftlichen Institutionen von Kindesalter an einprogrammiert. "Das Eliminieren dieser destruktiven patriarchalen Muster ist wesentlicher Bestandteil unseres Polydaseins", sagt Josef.

Eine polyamoröse Beziehung zu führen funktioniert laut Josef und Dominika aber nicht von heute auf morgen. Paare, die nach diesem Konzept leben möchten, sollten daher Schritt für Schritt neue Freiheiten diskutieren und festlegen. Generell brauche es für eine polyamoröse Beziehung viel Reflexion über das Beziehungssystem, aber auch über Verlustängste und Eifersucht.

"Mitfreude" statt Eifersucht

"Die emotionale Sicherheit zu bekommen, dass Josef bei mir bleibt, auch wenn er andere Frauen hat, war ein Prozess", sagt Dominika. Dieser war für sie anfänglich nicht ganz einfach. "Früher war ich nie eifersüchtig, weil ich die Männer immer in der Tasche hatte. Bei Josef war das anders."

Als Josef zu Beginn der Beziehung eine gemeinsame Freundin in Wien besuchen wollte, habe sie gelitten und gedacht, dass er bald nichts mehr von ihr wissen wolle. Als er dann aus Wien zurückkam und erzählte, dass das Treffen nicht stattgefunden hatte, wurde ihr bewusst, wie irrational ihre Eifersucht war: "Man denkt sich Dinge zurecht, die fern jeglicher Realität sind. Das ist extrem selbstzerstörerisch und hat nichts mit Liebe zu tun", sagt Dominika.

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man laut Dominika lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen. "Es war meine Vision, dass ich mein Glück nicht von einer anderen Person abhängig mache." Der psychologische Kniff bei vielen Polyamorösen ist, Eifersucht in "Mitfreude" zu verwandeln.

Differenzerlebnis durch Dritte

Josef und Dominika betrachten ihre Beziehung zueinander als Hauptbeziehung. "Wir leben zusammen, lieben uns über alles und wollen zusammen alt werden." Werten wollen sie die verschiedenen Beziehungen nicht. "Das ist, wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen", sagt Josef. Außerdem haben die beiden nicht ständig Beziehungen zu Dritten. Die längste Nebenbeziehung hat Dominika seit sieben Jahren zu einem Liebhaber in Wien.

Als Konkurrenten nimmt ihn Josef aber nicht wahr. Im Gegenteil: "Für unsere Beziehung ist es bereichernd, wenn einer von uns in jemand anderen verliebt ist." Dabei komme es nämlich zu einem Differenzerlebnis: "Dadurch bekommen beide wieder eine Besonderheit, sonst wäre irgendwann vom Körper bis zur Persönlichkeit alles aneinander selbstverständlich."

Keine eierlegende Wollmilchsau

Außerdem ist es für die beiden utopisch, dass ein Partner alle Bedürfnisse des jeweils anderen befriedigen kann. "Josef muss keine eierlegende Wollmilchsau sein", sagt Dominika mit einem Schmunzeln. Andere Beobachtungen macht der Psychotherapeut Zika bei monogamen Partnerschaften. Bei diesen werde der Anspruch an die Liebe immer größer, die Menschen würden heute alles mit einem Partner erleben wollen. Dominika und Josef hingegen haben keine Erwartungshaltungen aneinander: "Erst dann passieren die Dinge von selbst."

Zwei unterschiedliche Konzepte der Treue

Trotzdem spielt Treue für Dominika und Josef - genau wie in den meisten monogamen Zweierbeziehungen - eine zentrale Rolle. Die beiden haben jedoch ein anderes Verständnis von diesem Begriff. Monogame Beziehungen sind ihrer Meinung nach auf "negativer Treue" aufgebaut. Darunter verstehen sie, dass Menschen in Beziehungen so lange als treu gelten, wie sie etwas - zumeist dem Partner zuliebe - nicht machen.

Unterlassung gilt in diesem System als Liebesbeweis. Die Forderung an den Parnter, seine Freiheit einzuschränken, hat aber für Dominika und Josef nichts mit Liebe zu tun. Polyamoröse Beziehungen bauen deswegen auf "positiver Treue" auf. Bei diesem Konzept liegt der Fokus auf den Gemeinsamkeiten eines Paares und nicht darauf, dass bestimmte Sachen nicht passieren.

Vielfalt an Lebenskonzepten

Josef und Dominika sind davon überzeugt, dass Polyamorie bei allen Menschen, die es versuchen, tolle Früchte tragen kann. Nach Einschätzung von Zika wird es in Zukunft zwar mehr polyamoröse Partnerschaften geben, die romantische Beziehung aber weiterhin als Norm bestehen bleiben. Am wichtigsten sei es aber, weder polyamoröse noch monogame Partnerschaften einer Wertung zu unterziehen, denn aus der Arbeit mit seinen Klienten weiß er, dass "beide Konzepte oft nicht funktionieren". (Elisabeth Mittendorfer, derStandard.at, 22.4.2013)