Auf halber Strecke einer Rheinkreuzfahrt - also wohl in der Nähe der Bopparder Schleife - wird aus Fremden oft eine Art schwimmende europäische Gemeinschaft auf Zeit.

 

Foto: Rheinland Pfalz Tourismus

Nicht alles, was hinkt, taugt zum Vergleich, aber vom Rhein lässt sich zu Recht behaupten, er sei der Helmut Kohl unter Europas Flüssen. Ex-Kanzler und Rhein haben beide einen hohen Bekanntheitsgrad, beide beeindrucken durch ihre Maße und teilen den Hang zur Volkstümlichkeit, doch vor allem sind beide echte Europäer: Kohl als Kanzler der Einheit und Architekt der Europäischen Union und Vater Rhein als multinationaler Strom, der durch vier Länder fließt und Millionen Menschen mit Wasser versorgt, mit romantischen Liedern und Heldensagen.

So international wie der Fluss sind auch die Kreuzfahrtpassagiere, die den Rhein auf einem Teil seiner 1230 Kilometer langen Strecke von den Schweizer Alpen bis zur niederländischen Nordsee begleiten. Aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Norwegen, Großbritannien, den USA und Japan sind sie nach Basel gereist, in die erste Großstadt am Lauf des Flusses. Die anstehende Rheinfahrt ist für sie entweder Erholungsurlaub, Bildungsreise oder Lebenstraum. Da ist der pensionierte Landwirt, der "lange für die Reise gespart hat", die norwegische Bibliothekarin, die den Bericht von Viktor Hugos Rheinreise nachfährt, oder die Soziologieprofessorin aus Texas, die von Schlösser- und Burgenromantik angelockt wurde.

Jeder von ihnen wird einen anderen Rhein bereisen. Ihre Erwartungen an diese Fahrt treffen auf eine Crew aus Rumänen, Ungarn, Tschechen und Ukrainern - einziger Deutscher ist der Koch. 149 Passagiere und 42 Mitarbeiter werden sich für acht Tage die 110 Meter mal 11,40 Meter kleine Welt der Amadeus Diamond teilen.

Panorama ohne blonde Biber

Als Kapitän Viktor Oliynyic ablegt, stehen nur wenige Gäste an der Reling. Die meisten haben es sich bei Pianomusik in der Panorama-Bar gemütlich gemacht. Weißhaarige Gäste sitzen vor bunten Willkommenscocktails und lassen draußen die Basler Chemie-Fabriken an sich vorbeiziehen. Vor 25 Jahren starb hier der Rhein an Vergiftung, als es durch einen Brand zum chemischen Super-GAU kam. "Da waren plötzlich alle Biber blond", scherzt ein Pensionist aus Kassel. Heute tragen die Tiere wieder Pelz in Naturtönen, und der Rhein soll sauberer sein als vor 100 Jahren.

Jetzt beginnt das Leben als Kreuzfahrtpassagier und damit eine neue Zeitrechnung. Zeit misst sich auf der Amadeus Diamond in den nächsten acht Tagen nämlich nicht in Stunden, sondern in Rheinkilometern und in knackenden Lautsprecheransagen: erstes Knacken - Start des Tagesausflugs, zweites Knacken - Einladung zum Mittagessen, fünftes Knacken - Verkauf von Tombola-Losen. "Knack, knack" - und jeder weiß, was er zu tun hat: Warteposition im Speisesaal einnehmen oder wie Murmeln auf der Holzbahn über die Ausstiegsrampe von Bord gleiten. Mit einem Empfangsgerät um den Hals und einem Kopfhörer im Ohr hängen die Reisenden nun an der langen Leine der örtlichen Stadtführer.

In Straßburg glaubt Stadtführerin Nicole dem Alter der Reisenden entsprechend den Geriatrie-Sound einer Pflegefachkraft auflegen zu müssen. In Rüdesheim schreit Gabriele gegen das Rattern und Quietschen von Güterzügen an. 190 Züge sind täglich auf der rechtsrheinischen Strecke unterwegs. Die Info, dass das Mittelrheintal mit all seinen Burgen und Weinbergen 2001 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde, geht im Pfeifen einer Lok unter, und die Kreuzfahrtpassagiere aus Texas konstatieren: "The end of Gemütlichkeit." Die Japanerinnen fotografieren die Stadtpläne auf dem Marktplatz, die Briten entdecken Asbach Uralt, kaufen in der Drosselgasse dann aber doch Mozartkugeln und den Loreley-Felsen in Porzellan.

Wenn das Schiff am Ende eines Ausflugs wieder ablegt, bleiben die besuchten Städte wie angebissene Gustostückerln zurück. Von den Besichtigungen im kaleidoskopischen Schnelldurchgang nehmen die Reisenden den Geschmack von elsässischem Flammkuchen mit, Weinreben aus Rüdesheim und Tulpenzwiebeln aus Amsterdam sowie zwei volle Speicherkarten mit Fotografien, darunter wohl auch ein Bild vom Europäischen Parlament in Straßburg. Das Gebäude sieht unfertig aus. Am oberen Rand fehlen einige Glas- und Stahlteile, so als sei der Bau noch nicht abgeschlossen. Symbol dafür, dass auch Europa noch nicht fertiggebaut ist. Selbst im Kreuzfahrt-Alltag ist das Unfertige zu spüren, wenn die deutschen Gäste Verständigungsprobleme mit den rumänischen Kellnern haben, wenn die Schweizer Reisegruppe lieber unter sich bleibt oder die Italiener die Witze der Engländer obszön finden.

Leibhaftige Osterweiterung

Zwischen dem Preis für eine achttägige Reise und dem Monatslohn der Servicekräfte klafft ein Loch, durch das viel Wasser von Vater Rhein fließen und ihn als Großvater zurücklassen könnte. "Skandalös", empört sich eine junge Frau, die ihre Eltern auf der Reise begleitet. "Eine echte Chance, sich etwas aufzubauen", lobt Helmut Spitzbart, der als Hotelmanager auf dem Schiff arbeitet. So oder so - die Amadeus Diamond ist auch ein schwimmendes Spiegelbild der Gesellschaft, die leibhaftig gewordene Osterweiterung der EU, die vor zehn Jahren - am 16. April 2003 - mit der Unterzeichnung der Beitrittsverträge in Athen besiegelt wurde.

Hier auf dem Schiff bekommt Osteuropa ein Gesicht: das von Anet, die das Handtuch-Origami beherrscht und den Passagieren jeden Morgen Frotteeelefanten, Krokodile oder Hasen auf das Bett setzt; oder das von Marcel, der als Maschinist für so vieles zuständig ist - von den Motoren und der Klimaanlage bis zum Alarm und zum GPS-System. Interessierte Passagiere führt er jedenfalls so stolz auf dem Schiff herum, als wäre es sein Eigentum.

Auf halber Strecke wird aus Fremden oft eine Reisegruppe. Dann erzählen die Italiener den Engländern die Witze, und die Schweizer tauschen mit den Deutschen Visitenkarten aus. Doch es ist nur eine Gemeinschaft auf Zeit, die zerfällt, wenn in Amsterdam alle das Schiff verlassen. Was bleibt, ist die Erkenntnis: Flüsse können Ideen genauso tragen wie Güter, und Vater Rhein kann sogar noch ein bisschen mehr. Es ist nicht bloß die Idee einer gemeinsamen europäischen Identität, die er von den Alpen zur Nordsee transportiert. Eine Kreuzfahrt lang wird Europa zum Praxisfall, in dem Passagiere und Personal die Annäherung üben. (Nicole Quint, DER STANDARD, Album, 12.4.2013)