Verkleidet als Thomas Kuban tritt der Undercover-Journalist in den Medien auf. In seiner Rolle als Neonazi hatte er bis zu 40 verschiedene digitale Pseudonyme gleichzeitig. 15 Jahre lang recherchierte und filmte er in der Szene.

Ursprünglich hatte Kuban nicht geplant, aus der Deckung zu gehen. Allerdings war das laut seinen Angaben die einzige Chance, seine Rechercheergebnisse auch einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen, weil das allgemeine Interesse der Medien gering war.

Foto: Kuban

Szenen aus Kuban-Videos vom Auftritt der Band "Die Lunikoff Verschwörung" beim "Rock für Deutschland" der NPD in Gera. Sänger Michael "Lunikoff" Regener ist der ehemalige Sänger von "Landser".

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Ein mittlerweile ehemaliger NPD-Funktionär mit "Blood & Honour"-T-Shirt.

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Die Polizei pflegte einen teilweise kumpelhaften Umgang mit den Neonazis, hier bei einem Rechtsrock-Konzert 2006 in Mitterding (Oberösterreich). Nachdem die Polizei den Saal verlassen hatte, nahm ein Konzert seinen Lauf.

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Thomas Kuban ist nicht sein richtiger Name. Und auch sein wirkliches Aussehen kennt die Öffentlichkeit nicht. Seine Undercover-Tätigkeit in der Neonazi-Musikszene hat er mittlerweile beendet, doch auch mit seinen öffentlichen Auftritten begibt er sich in Gefahr. Unter seinem Pseudonym steht er auf Fahndungslisten der Szene. Unter Lebensgefahr filmte Kuban jahrelang bei konspirativen Nazikonzerten, aber auch in der Rocker- und Hooliganszene. 40 digitale Identitäten hat Kuban in dieser Zeit kreiert. Er lieferte bisher nie dagewesenes Filmmaterial aus einer Szene, die stetig wächst.

Im derStandard.at-Interview erzählt Kuban über seine Erlebnisse als Undercover-Neonazi, von der Gleichgültigkeit der Behörden und der Politik sowie von einer Naziszene, die sich längst selbst finanziert. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) sei nur eine logische Folge der idealen Bedingungen, die Neonazis in Deutschland vorfinden.

derStandard.at: Sie haben sich einen Namen gemacht durch Ihre langjährigen Undercover-Recherchen in der rechtsradikalen Musikszene Deutschlands und Europas. Daraus entstanden u.a. Buch und Film "Blut muss fließen“. Wie schwierig war es, in die Szene zu kommen?

Kuban: Das ist ein Aufwand, der sich bei mir über Jahre hinweg erstreckte. Ich habe erstmals nach einer Anbahnungs- und Recherchezeit von sechs Jahren riskiert, mit einer Knopflochkamera in eines der konspirativen Konzerte zu gehen. Wenn man auf einem geheimen Neonazi-Konzert mit versteckter Kamera erwischt wird, kann das im Krankenhaus, aber genauso gut auf dem Friedhof enden. Also musste ich mir vollkommen sicher sein, dass sowohl meine Rechercheidentität als auch meine Ausrüstung den ungewöhnlichen Anforderungen entspricht.

Ich habe in einschlägigen Foren studiert, wie die Szene tickt und versucht, in die Welt der Nazis ein Stück weit einzutauchen. Es kommt auf Details an. In meinem Geldbeutel steckten immer Kundenkarten von Nazi-Geschäften. Vor den Konzerten hörte ich intensiv Rechtsrock. Ich habe die einschlägigen Liedtexte auswendig gerlernt. Einerseits als Tarnung, andererseits um im richtigen Moment mit der Kamera günstig zu stehen.

derStandard.at: Anfang Mai beginnt der NSU-Prozess, in dem die terroristischen Aktivitäten der sogenannten "Zwickauer Zelle" beleuchtet werden. Hat Sie der Rechtsterror in Deutschland überrascht?

Kuban: Ich beobachte in den letzten Jahren, wie die Nazibewegung in Europa wächst und wächst. Von den Sicherheitsbehörden, der Politik und den Medien wird dem allerdings nicht ausreichend Bedeutung beigemessen. Das hat dazu geführt, dass die Nazibewegung mittlerweile ein Massenphänomen werden konnte. Das Ergebnis sieht man jetzt. Ohne die Nazibewegung hätte es den NSU nicht gegeben. Sie kommen aus diesem Milieu, sind extreme Rassisten. Erst dieser Tage hat der Innenminister von Baden-Württemberg bekanntgegeben, dass Mitglieder des NSU in Baden-Württemberg auf Nazikonzerten waren. Es war aber schon vor dem NSU bekannt, dass Nazis Mord und Totschlag an Ausländern und Juden nicht nur in Liedtexten bejubeln, sondern auch zur Tat schreiten.

Die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht von etwa 180 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit 1990. Die polizeiliche Statistik weist hingegen "nur" 60 Todesopfer aus. Eine alarmierende Diskrepanz.

derStandard.at: Wie groß ist die rechtsradikale Bewegung in Deutschland und wie ist aktuell der Zulauf?

Kuban: Wir sprechen von tausenden Leuten alleine in Deutschland. Es gibt Großveranstaltungen mit Rechtsrockbands, die bis zu 7.000 Leute anziehen. Und natürlich ist bei weitem nicht die gesamte Naziszene auf so einer Großveranstaltung vertreten. Die Nazi-Skinheads der 80er und 90er Jahre haben mittlerweile Familie. Das jährliche Gedenkkonzert in England für Ian Stuart Donaldson, den verstorbenen Sänger der Szene-Kultband Screwdriver und Gründer des Blood-&-Honour-Netzwerks, gleicht einem Familienfest. Auch stimmt das Klischee vom ungebildeten Proletennazi nicht. Das Publikum auf den Konzerten, auf denen ich war, kommt aus allen Gesellschaftsschichten und ist bunt gemischt. Die Sänger der inzwischen nicht mehr aktiven Bands "Ultima Ratio" und "Noie Werte" waren beispielsweise Rechtsanwälte. Mittlerweile sind auch schon viel mehr Frauen Mitglieder der Szene als zu Beginn meiner Recherchen. Über den Daumen gepeilt würde ich schätzen, dass mittlerweile 25 Prozent der Szene weiblich sind.

derStandard.at: Können Sie auch zu Österreichs Szene etwas sagen?

Kuban: Ich bin auf Konzerten immer wieder Österreichern begegnet. Gut zu sehen war das vor allem bei Blood-&-Honour-Leuten, weil die die entsprechende Kleidung tragen. In Belgien habe ich Schlägereien zwischen österreichischen und deutschen Nazis auf der einen Seite und polnischen auf der anderen Seite erlebt. Trotz aller "White Power"-Ideologie, laut der die weiße Hautfarbe entscheidend ist, sind die Polen einigen Nazis dann doch nicht arisch genug, um in dieser rassistischen Szene anerkannt zu werden. Auch arbeitet die bayerische und oberösterreichische Szene intensiv zusammen.

derStandard.at: Warum konnte sich die Szene an den Behörden vorbei derart vergrößern?

Kuban: Die Nazis müssen sich vielerorts die rechtsfreien Räume gar nicht mehr erkämpfen, sie bekommen sie von der Polizei und den Behörden einfach überlassen. Ich habe Nazikonzerte erlebt, bei denen der Staatsschutz im Konzert selbst stand und nicht einmal Hitlergrüße – von volksverhetzenden Liedern will ich gar nicht reden – als Straftaten identifiziert hat und folglich nicht eingegriffen hat. Es scheinen teilweise extrem schlecht ausgebildete Beamte im Einsatz zu sein. In Bayern habe ich bei einem NPD-Konzert mit Blood-&-Honour-Hintergrund gefilmt. Die anwesende Polizei unternahm nichts. "Spiegel TV" brachte mein Filmmaterial, daraufhin hat die Polizei ein Ermittlungsverfahren begonnen. Das wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weil nicht mit "hinreichender Sicherheit" die Tatbeteiligung der Verdächtigen feststellbar war. Das bayerische Innenministerium hat dieses Desaster auch noch erläutert und begründet und damit letztlich verteidigt.

derStandard.at: Sie kritisieren insgesamt, dass die Nazibewegung in Deutschland von Behörden und Medien unterschätzt wird?

Kuban: Die Ermittlungen und das Medieninteresse rund um den NSU sind natürlich dringend notwendig, aber insgesamt muss man den Blick viel stärker auf die Nazibewegung richten, als das aktuell der Fall ist. Was mir besondere Sorgen macht, ist das Verschmelzen von organisierter Kriminalität und politischem Extremismus. Hier spielen insbesondere Rockergruppen eine Rolle. Wenn man sich in der Rockerszene bewegt, merkt man erst, wie viele Nazis dort anzutreffen sind. Rockerclubs haben immer wieder ihre Clubhäuser für Nazikonzerte zur Verfügung gestellt.

Ein Beispiel für die Verschmelzung dieser Milieus in Österreich ist die Kameradschaft "Objekt 21", die sich unter anderem mit dem Tatvorwurf des Waffen- und Drogenhandels konfrontiert sieht, oder in Deutschland das jüngst aufgedeckte Neonazi-Netzwerk in deutschen Haftanstalten. Die "AD Jail Crew", wie sich das Netzwerk nannte, hat die "Bikers News", eine der bekanntesten Rocker-Zeitschriften, sozusagen als Kontaktbörse genutzt. Ich musste mit Erstaunen feststellen, dass die Sicherheitsbehörden und Innenministerien der Meinung sind, dass Nazis in der Rockerszene nur Einzelphänomene sind oder es sich bei den Personen um Nazi-Aussteiger handelt. Wenn das tatsächlich so wäre, dann wären die Hells Angels und ihre Unterstützerclubs das erfolgreichste Nazi-Aussteigerprogramm, das es in Deutschland je gegeben hat, und man müsste ihnen dann eher staatliche Fördermittel zukommen lassen, als über Rockerclub-Verbote zu diskutieren.

derStandard.at: Wie finanziert sich die Nazi-Bewegung?

Kuban: Die Szene finanziert sich zu einem großen Teil selbst durch umfangreiche Geschäftsstrukturen. Plattenfirmen, Versandfirmen, Läden florieren. Ein Nazi-Geschäftsmann, der kein böses Blut schüren will, "reinvestiert" einen Teil seines Gewinns für Projekte der Szene oder zum Beispiel für Anwälte von angeklagten Neonazis. Auch werden in den einschlägigen Betrieben bevorzugt Nazis als Mitarbeiter angestellt.

derStandard.at: Könnten auch die Angeklagten im NSU-Prozess Nutznießer dieser "Reinvestierungen" sein?

Kuban: Das kann ich nicht sagen, aber möglich ist es. Ich habe auf Konzerten wiederholt erlebt, dass Spenden für Leute in U-Haft gesammelt wurden, um deren Rechtskampf zu finanzieren. Es ist also zumindest Usus, dass man sich mit Kameraden, die mit dem Staat in Konflikt geraten, solidarisch zeigt.

derStandard.at: Was halten Sie vom V-Mann-System, das auch im Rahmen der NSU-Untersuchungen massiv kritisiert wurde?

Kuban: V-Leute sind Nazis, die vom Staat dafür bezahlt werden, dass sie ihresgleichen beobachten und die Informationen weitergeben – welche Informationen, das bleibt ihnen überlassen. Es ist absurd, dass der Verfassungsschutz den Schutz der Verfassung sicherstellen will, indem Nazis Nazis beobachten. Professionell wäre ein System mit verdeckten Ermittlern, die sich ähnlich in die Szene einschleusen wie ich. Die könnten dann zum Beispiel nach den ersten strafbaren Handlungen so ein Konzert verlassen und die Bereitschaftspolizei informieren, dass sie das Konzert auflösen soll. Außerdem könnte durch die Anwesenheit solcher Profis beispielsweise das Argument entkräftet werden, dass es sich um Privatveranstaltungen handelt. Teilweise werden an einem geheimen Treffpunkt vor dem Konzert alibihalber "private Einladungen" verteilt, die dann der Polizei gezeigt werden.

derStandard.at: Wie würde ein NPD-Verbot die Naziszene verändern?

Kuban: Wer die Nazibewegung schwächen will, muss die Nachwuchs-Rekrutierung unterbinden. Was den Nachwuchs betrifft, hat die NPD eine wichtige Funktion für die Nazi-Bewegung insgesamt. Die NPD nützt ihren Parteistatus, um Großveranstaltungen wie eben Konzerte genehmigt zu bekommen. Das sind Anlaufstellen, wo junge, demokratie- und zukunftsverdrossene Leute angefixt werden können. Anfangen tut das zum Beispiel mit den sogenannten "Schulhof-CDs", die an Jugendliche verschenkt werden. Da sind nicht nur explizit rechtsextreme Songs drauf, sondern es wird zum Beispiel auch gegen Krieg angesungen. Auf den offiziellen NPD-Rechtsrock-Konzerten können dann erste Kontakte geknüpft werden. Die Musik weckt Emotionen, und auf der Gefühlsebene lassen sich die politischen Botschaften hervorragend transportieren. Spätestens wenn die Nazi-Lieder auswendig gelernt werden, setzt sich der Hass im Kopf fest. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 23.04.2013)