Der neueste Fall von öffentlichem Shaming: "Reasons my son is crying"

Screenshot: reasonsmysoniscrying

Bekanntestes Beispiel: "David after dentist"

Screenshot: YouTube

25 Millionen Views und fast 32.000 Kommentare. So die Bilanz eines Ausschnitts aus der Sendung des US-Comedians Jimmy Kimmel. Kurz nach Halloween forderte er Zuseher auf, Reaktionen ihrer Kinder aufzunehmen, wenn ihnen mitgeteilt wird, dass alle zu Halloween gesammelten Süßigkeiten bereits aufgegessen wurden. Die Social Media Kanäle waren in der ersten Novemberwoche 2012 voll von Jimmy Kimmels lustigen Videos. Auch zu Weihnachten, als man den Kindern Kartoffeln und leere Pappkartons statt Spielzeug und Süßigkeiten schenkte, waren Jimmy-Kimmel-Zuschauer und YouTube-User ob der Lustigkeit der eingesendeten Videos entzückt.

Doch wie weit können Eltern moralisch und rechtlich gehen, wenn es um das Bloßstellen ihrer Sprösslinge geht? Die Antwort darauf ist schwieriger zu finden, als man denkt.

Veröffentlichung von "lustigen" Kindervideos

Im Fernsehen hat man so etwas schon vor Jahrzehnten vorgesetzt bekommen. In Zeiten von Social Media werden solche "lustigen" Videos aber ungehemmt und immer wieder millionenfach geteilt. Eines der besten Bespiele aus dieser Kategorie ist "David after dentist". David, ein kleiner Junge aus den USA, hat nach einem Zahnarzt-Termin, benommen von der Narkose, etwas wirre und zugegebenermaßen witzige Aussagen von sich gegeben. Davids Vater hatte in diesem Augenblick, als sich die Szenen am Rücksitz seines Wagens abspielten, die Kamera oder das Smartphone gezückt und ein Video davon aufgenommen. Daran ist an sich nichts auszusetzen, denn Videos von Kindern zu Erinnerungszwecken sind nichts Ungewöhnliches. Anders ist das aber, wenn der Vater das Video nicht in die Schublade schiebt, wo sämtliche Familienalben zu finden sind, sondern dieses auf YouTube öffentlich teilt.

Verhängnis

Der neueste Fall, der durch die Social Media Kanäle und diverse Tech-Medien kursiert, ist "Reasons my son is crying". In diesem Tumblr-Blog stellt ein Vater Fotos seines zweijährigen Sohnes zur Schau, in denen der Junge weint. Versehen werden die Fotos zusätzlich mit scheinbar witzigen Kommentaren. Was Erwachsene im ersten Moment schrecklich komisch finden, kann Kindern irgendwann zum Verhängnis werden – und den betroffenen Eltern auch.

Die Moralkeule

Um auch in Sachen Social Media die Moralapostel-Keule zu schwingen, sei gesagt: Auch Kinder haben das Recht am eigenen Bild. Das Problem ist allerdings, dass Kinder dieses Recht weder kennen, noch begreifen und schon gar nicht einfordern können. Es obliegt also dem gesetzlichen Vertreter des minderjährigen Kindes, über diese Eingriffe in die Privatsphäre zu entscheiden. Mittlerweile wird bei Schulveranstaltungen und Kindergartenfesten die Erlaubnis, das Bild des Kindes für Pressezwecke oder Werbesujets zu verwenden, von den Eltern eingeholt. Im privaten Rahmen sieht die Realität aber anders aus.

Der bittere Beigeschmack

Laut Wiener Jugendanwalt Anton Schmid ist das Entscheidende bei der Diskussion um das Recht am eigenen Bild, dass es ein ureigenes Recht ist. Das "elterliche Recht" der Veröffentlichung existiert per se nicht. Es sei ein Fehler, dass die österreichische Rechtssprechung dies im Falle von Jugendlichen und Kindern nicht genauer formuliert hat, so Schmid. Theoretisch sei ein Veröffentlichen von Fotos nämlich einklagbar, auch, wenn die Einsicht der Fotos – beispielsweise auf Facebook – beschränkt ist. Sollte es zu psychischen Schäden kommen, kann man zivilrechtlich Schadenersatz einfordern. Interessen sollten hier also eindeutig abgewogen werden. Wer ein Bild mit dem Titel "Mein blödes Kind" auf Facebook stellt, muss damit rechnen, dass es dem Kind sauer aufstoßen könnte.

Ein Beispiel

In Deutschland wurde im Jahr 2010 ein Vater aufgefordert, sämtliche Bilder seiner Tochter aus dem Netzwerk meinVZ zu entfernen. Das Sorgerecht oblag zu diesem Zeitpunkt der Mutter, die gegen die Verbreitung der Bilder vorging. Der Betroffene musste die Bilder entfernen. Im Falle einer Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsanordnung wurde ihm eine Ordnungsgeldstrafe von 250.000 Euro angedroht.

Dokumentationszwang

Rechtlich gesehen können Eltern also Fotos von ihren Kindern im Netz veröffentlichen. Die Abwägung, inwieweit dieser Eingriff in die Privatsphäre des Kindes im Interesse des selbigen liegt, obliegt dem mit dem Sorgerecht beauftragen Elternteil. Dass sich Eltern darüber scheinbar wenig bis gar keine Gedanken machen, lässt sich im Web täglich aufs Neue beweisen: Das Video-Portal YouTube ist neben unzähligen Katzenvideos auch mit einer immensen Anzahl an Videoaufnahmen von Kindern und Jugendlichen bestückt. Einige Eltern haben es sich sogar zur Aufgabe gemacht, sämtliche Alltagssituationen und Lebensereignisse ihrer Kinder zu dokumentieren und zu veröffentlichen.

Mobbing und Depressionen

Heutige Kinder und Jugendliche werden in Zeiten dieser Phänomene großgezogen und sollten deshalb umso mehr immer wieder an ihre Rechte erinnert werden. Dass es nicht in Ordnung ist, wenn der Mitschüler einen beim Klogang filmt und das Video auf YouTube teilt, ist ein Bewusstsein, das viele Jugendliche gar nicht erlangen können, weil es ihnen ja auch kaum jemand anders vormacht. Ein Gefühl der Ohnmacht macht sich schnell breit, wenn dann die eigenen Eltern mit ihrer YouTube-Historie nicht gerade wenig dazu beigesteuert haben. Im Extremfall können diese Ereignisse zu Mobbing, Schuldgefühlen, Depressionen und Angstzuständen führen - wie zwei unglaublich tragische Fälle aus den USA beweisen.

Monatelanges "Bullying"

In einem Fall im US-Bundesstaat Ohio wurden die Mitglieder einer Football-Mannschaft einer High School beschuldigt, ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Die Anwesenden haben laut New York Times angeblich Fotos davon gemacht und sogar noch während der Ereignisse auf Twitter, YouTube und Facebook gestellt. Das Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer Betrunkenheit nicht ansprechbar war, erfuhr erst am nächsten Tag über diverse Social Media Kanäle über die Ereignisse des Vortages. Im März wurden die Täter zu einer Haftstrafe verurteilt. In einem ähnlichen Fall wurde ein Mädchen nach solchen Ereignissen noch monatelang über Social Media gemobbt, bis sich die 17-Jährige das Leben nahm.

Eltern als sichere Instanz

In keinem dieser Fälle waren Eltern involviert. Dennoch zeigen diese beiden Beispiele, dass öffentliches "Shaming"  – egal aus welchem Grund – ein zusätzliches traumatisches Ereignis darstellt, wenn das Ereignis an sich schon traumatisch genug ist. Wenn Eltern als sichere Instanz wegfallen, weil sie diese Grenzen des öffentlichen Bloßstellens bereits selbst überschritten haben, wird es aber noch um einiges schlimmer.

Das Internet vergisst nicht

Um die moralische Spirale weiterzudrehen, könnte man sich überlegen, was passiert, wenn der Junge aus dem oben genannten – und durchaus als gemein zu bezeichnenden - Tumblr-Blog heranwächst. Sollte er jemals merken, dass sein Vater diese durchaus unangenehmen Bilder ins Internet stellte, könnte peinliche Berührtheit noch das geringste Übel sein. Wie wohl der mittlerweile 11-jährige "David after Dentist"-Darsteller mit seiner Berühmtheit umgeht, ist nicht bekannt. Der Vater des Jungen mag das Video bereits aus seiner Erinnerung verbannt haben. Die große Frage, die bleibt, ist aber: Wenn das Internet nicht vergisst, werden unsere Kinder uns irgendwann für all diese Bilder und Videos zur Rechenschaft ziehen?

Rechtliche Auseinandersetzungen

Erinnern wir uns zurück an analoge Zeiten: Jenes Baby, das vor 22 Jahren das Nevermind-Album von Nirvana zierte, hat in einem Interview mit CNN gemeint, dass er das Album nie vor seinen Freunden spielt, da es ihm unangenehm sei. "Nevermind" wurde international etwa 30 Millionen Mal verkauft. Zum Vergleich: In vier Jahren wurde "David after Dentist" über 118 Millionen Mal auf YouTube angesehen. Ob es David irgendwann auch unangenehm sein wird, ein Internet-Phänomen gewesen zu sein, werden wir dann in zehn Jahren erörtern können. Die ersten Fälle von rechtlichen Auseinandersetzungen diesbezüglich werden aber früher oder später zumindest vereinzelt mit Sicherheit ein Thema sein. (Iwona Wisniewska, derStandard.at, 10.4.2013)