Achtundsechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt Deutschland noch einmal Anlauf, um Verbrechen der Nazizeit zu sühnen. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) leitet in den nächsten Wochen Vorermittlungen gegen 50 frühere Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz (Polen) ein. Dort waren zwischen 1940 und 1945 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen ermordet worden, rund eine Million davon waren Juden.

Laut dem Leitenden Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm sollen diese Aufseher noch in Deutschland leben, sie sind heute allesamt neunzig Jahre alt oder älter. Den Ermittlern liegen Namen, Geburtsdaten und Angaben zu den Wohnorten der Tatverdächtigen vor. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord.

Auslöser für diese Ermittlungen ist der Fall des Ukrainers John Demjanjuk. Der damals 91-Jährige war 2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord in 20.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Während der NS-Zeit war er Wachmann im Vernichtungslager Sobibor (Polen) gewesen. In der Urteilsbegründung hieß es 2011: "Der Angeklagte war Teil der Vernichtungsmaschinerie."

Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord

Demjanjuk starb acht Monate später, noch bevor das Urteil rechtskräftig wurde. Sein Fall jedoch änderte die rechtliche Grundlage. Zum ersten Mal nämlich hatte ein deutsches Gericht entschieden, dass die nachweisliche SS-Mitgliedschaft ausreichend sei, um jemanden, der als Aufseher tätig war, wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen.

Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist von den Ermittlungen angetan und sagt: "Gerechtigkeit kennt keine Verfallszeit." Doch noch ist unklar, wie viele der Männer überhaupt noch juristisch belangt werden können.

Die Zentralstelle überprüft zunächst, ob die Betroffenen vor Gericht gestellt werden können. Dies ist nicht möglich, wenn sie bereits vor dem Richter standen und rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurden. Denn niemandem darf zweimal wegen einer Sache der Prozess gemacht werden. Nach der Prüfung der verdächtigen Auschwitz-Aufseher sollen die Einsatzgruppen weiterer Vernichtungslager unter die Lupe genommen werden. (Birgit Baumann, DER STANDARD, 10.4.2013)