STANDARD: In Ihrem aktuellen Forschungsprojekt "Cityscalers" vergleichen Sie die Situation von Migranten in sieben Städten. Wie haben Sie diese ausgewählt?
Çağlar: In dem Projekt geht es um die verschiedenen Wege, wie Migranten Teil urbaner Erneuerungsprozesse werden. Das Projekt soll die Verbindungen zwischen Stadtentwicklung, Migration und neoliberaler Globalisierung aufzeigen. Infolge der Globalisierung sind Städte in einem Konkurrenzkampf, um sich neu zu positionieren. Unser Fokus liegt auf den Möglichkeiten, die verschiedene Städte für Migranten bieten. Wir schauen uns einerseits die aufstrebenden Hauptstädte Berlin, Wien und Budapest an. Alle drei sind Drehkreuze zwischen Ost und West. Nach 1989 und mit dem Schengen-Abkommen haben sich ihre Positionierungen wieder geändert. Wir vergleichen diese Hauptstädte mit einer Gruppe von Städten, die mit Ausnahme von Marseille in denselben Ländern liegen, aber über sehr verschiedene soziale, ökonomische und politische Ressourcen verfügen.
STANDARD: Sie wollen also Hauptstädte mit kleineren Städten vergleichen?
Çağlar: Wir folgen dem Forschungsansatz der US-Soziologin Saskia Sassen, die Städte als zunehmend entkoppelt von den Nationen sieht. Wir wollen über den nationalstaatlichen Rahmen hinausgehen. Die Idee dahinter ist, dass Hauptstädte untereinander mehr Gemeinsamkeiten haben dürften als mit anderen Städten innerhalb des Landes. Als zweite Gruppe haben wir europäische Kulturhauptstädte gewählt: Linz war es 2009, Pécs und Essen 2010, Marseille ist Kulturhauptstadt 2013. Alle teilen die Folgen der Deindustrialisierung und haben sich kulturbasierte Stadtentwicklung auf die Fahne geschrieben. Marseille untersuchen wir, um eine historische Tiefe zu gewinnen. So können wir die Welt 2009 mit der Welt 2013 in Beziehung setzen - wir dürfen den Einfluss der Wirtschaftskrise auf urbane Restrukturierungsprozesse nicht vergessen.
STANDARD: Was haben die Kulturhauptstädte mit Migration zu tun?
Çağlar: Migranten können sehr wichtig für das Branding der Stadt werden, im Sinne eines "kosmopolitischen" Marketings. Sogar sozial benachteiligte Gruppen, die sich bei Kunstfestivals und in der Kreativindustrie engagieren, können eine wichtige Ressource sein. Migranten werden üblicherweise als Arbeitskraft betrachtet, sie sind aber auch eine wichtige politische Kraft, ein sozialer, ökonomischer und kultureller Faktor.
STANDARD: Auch in neoliberalen Globalisierungsprozessen?
Çağlar: Migranten spielen eine wichtige Rolle dabei, etwa was die Privatisierung betrifft. Der Trend zur Selbstverantwortlichkeit steht ganz oben auf der Agenda von neoliberaler Stadtplanung. "Ethnische Ökonomien" - ich bin kein Freund dieses Begriffs - sind das große Thema. Das Selfmademan-Image von Migranten, die sich auf ihre eigenen Netzwerke und deren Kapital verlassen können - ob das nun so stimmt oder nicht -, ist ein sehr fruchtbare Boden für die neoliberale Subjektivierung. Migranten nutzen oft leerstehende Lokale und brachliegende Flächen und ermöglichen so eine Aufwertung dieser Infrastruktur. In Budapest haben wir gesehen, dass speziell chinesische Migranten intensiv in Immobilien investieren und dort zu einem wichtigen Player werden, besonders während derzeitiger Krisen. Durch ihre transnationalen Verbindungen bringen Migranten oft Partner als Neuinvestoren in die Städte, unter ihnen auch weltweit agierende Unternehmen. Auch in Wien werden dadurch Viertel aufgewertet und gentrifiziert. Genaueres werden die weiteren Forschungen zeigen.
STANDARD: Mit welchen Methoden gehen Sie vor?
Çağlar: Wir betrachten die Netzwerke, Beziehungen und Praktiken von Migranten und setzen sie in Beziehung zu dem jeweiligen Ort, seiner transnationalen Relevanz und seiner Geschichte. Wir sehen uns Konzepte für kulturelle Diversität an - in der Politik, in Projekten, in der Stadtplanung - und analysieren, wie sie reflektiert werden in der räumlichen und sozialen Reorganisation und was das für Migranten bedeutet. Ihre Möglichkeiten hängen von der Einbindung der Stadt in globale Prozesse ab, aber auch von den Vorstellungen über Rebranding, die in einer Stadt kursieren. Alle wollen kulturelle Diversität, weltoffen sein, aber keine "Ghettos". Das Projekt ist verankert zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was wirklich passiert.
STANDARD: Haben Sie schon Unterschiede zwischen den Städten feststellen können?
Çağlar: Es gibt bisher nur erste Hinweise. Wir haben etwa festgestellt, dass die Unis in Pécs, Essen und Linz eine große Rolle bei der Stadtentwicklung und Gentrifizierung, aber auch bei der Internationalisierung und beim Aufbau von Wissensindustrien spielen. In Pécs trugen die deutschen, skandinavischen und chinesische Studenten nach der Krise maßgeblich dazu bei, die Stadt am Laufen zu halten. Wir verfolgen auch die Spuren, wie sich die Geschichte der unfreiwilligen Migration von Zwangsarbeitern und Vertriebenen heute in den Kulturhauptstädten widerspiegelt. In Essens Bewerbung zur Kulturhauptstadt waren Migranten sehr präsent, in Pécs wurden sie mit keinem Wort erwähnt. In Linz wurden Migranten nur am Rande tangiert, obwohl sie gut organisiert sind.
STANDARD: Sie haben selbst in vielen Städten gelebt. Inwiefern hat das Ihre Forschung beeinflusst?
Çağlar: Wenn man sich an einem anderen Ort niederlässt, beginnt man darüber nachzudenken, warum und wie die verschiedenen Vorstellungen entstanden sind, mit denen Neuankömmlinge konfrontiert sind. Migranten haben eine zwiespältige Rolle in der Gesellschaft. Hier offenbaren sich die Bruchlinien hegemonialer Macht. Deswegen ist Migration für mich eine gute Linse, um soziale Prozesse zu beobachten. In Berlin war es eine ganz grundlegende Erfahrung zu beobachten, wie schnell man auf die Rolle als "Migrant" mit all seinen Konnotationen festgeschrieben wird. In Budapest ist Migration kein Thema, eher die Diaspora. In Wien ist die Rhetorik ganz anders. Ich sehe das Projekt als gute Möglichkeit, die Stadt kennenzulernen. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 10.4.2013)