Die kriegerischen Drohungen mit einem atomaren Schlag gegen die USA und Südkorea durch Nordkoreas Führung erschrecken die Menschen in der Region und lösen ein weltweites Rätselraten in den Staatskanzleien und den relevanten Forschungsinstituten aus. Sie erinnern an die heißeste Phase des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Die wilden Spekulationen ebenso wie die widerspruchsvollen Berichte aus dem am meisten verschlossenen Land der Erde rufen eine Mahnung Paul Valérys, des großen französischen Essayisten, in Erinnerung. Er schrieb 1944 über "eine Welt, aus der immer stärker jegliche Möglichkeit nützlicher Vorhersage ausgeschlossen ist."

Nach manchen psychologischen Ferndiagnosen geht es angeblich bloß darum, dass der nicht einmal dreißigjährige Nachwuchsdiktator Kim Jong-un nach einem harten Machtkampf mit manchen Generälen seine Stellung innerhalb der totalitären, seit 65 Jahren existierenden Herrscherdynastie 15 Monate nach seinem Machtantritt mit höchst riskanten Mitteln festigen will. Andere Analytiker der wahnwitzigen Ankündigungen spekulieren über ein bizarres Szenario, um Gleichberechtigung zu erreichen und den Weg zu einem Dialog "von Atommacht zu Atommacht" mit Washington zu ebnen.

Pjöngjang hat allerdings in diesem Jahr bereits mit einem Testflug einer dreistufigen Rakete und einem dritten Atomtest die Spannungen sehr verschärft. Der neue US-Verteidigungsminister Chuck Hagel sprach angesichts der "jüngst zugespitzten kriegstreiberischen Rhetorik und der Handlungen der nordkoreanischen Seite" von "einer realen und klaren Gefahr." Sein Vorgänger Leon Panetta warnte sogar, eine Fehleinschätzung könnte einen atomaren Mechanismus auslösen.

Da in Nordkorea nicht nur eine abstoßende und menschenverachtende, sondern zugleich auch eine undurchschaubare und unberechenbare Diktatur eines Familienclans herrscht, kann kein Beobachter wissen, was Kim oder seine Generäle wirklich wollen und was in diesem undurchdringlichen System vorgeht. Für Freund und Feind ist diese Familiendiktatur eigener Prägung nicht abschätzbar. Deshalb versuchen die als absolutes Feindbild geltenden Amerikaner noch immer eine Balance zwischen militärischen Abwehrmaßnahmen, auch zum Schutz des südkoreanischen Verbündeten, und diplomatischen Verständigungssignalen zu wahren.

Ist nun der junge Kim die treibende Kraft oder Getriebener der alten Generäle? Wer kann vergessen, dass Großvater Kim im Juli 1950 einen Krieg riskierte, der nach dem Kriegseintritt Chinas und der USA erst im Sommer 1953 nach fast vier Millionen Opfern mit einem Waffenstillstand endete. Heute wirken China und Russland, die Schutzmächte Nordkoreas als Faktoren der Mäßigung, doch kann man trotzdem folgenschwere Fehlkalkulationen nicht ausschließen. Für Washington bleibt China jedenfalls unverzichtbarer Partner im Umgang mit dem unberechenbaren Kim Jong-un.

Das eigentliche Ziel der neuen Eskalation aus Pjöngjang bleibt im Dunkeln. Kims Spiel mit dem Roulette kann sich als ein alter Trick aus dem koreanischen Polittheater entpuppen oder (möglicherweise unbeabsichtigt) eine verheerende Kettenreaktion auslösen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 9.4.2013)