Gleiche Fähigkeiten, unterschiedliche Leistungen?

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Gerdamarie Schmitz: "Lehrer und Eltern können dem Kind Vertrauen geben."

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"Was ich will, das schaffe ich auch." Dieser Satz ist zentral bei der Theorie der Selbstwirksamkeit, die die deutsche Psychologin Gerdamarie Schmitz anwendet. Durch die richtige Überzeugung im Kopf könnten viele Fähigkeiten von Kindern entdeckt und gefördert werden, die sonst im Verborgenen bleiben, ist sie überzeugt. Wie Lehrer reagieren müssen und warum auch die Eltern in die Pflicht genommen gehören, den Kindern neutral gegenüberzustehen, sagt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie wenden das Konzept der Selbstwirksamkeit an. Worum geht es dabei?

Schmitz: Wenn Menschen handeln, denkt man immer, ihre Fähigkeiten bestimmen über ihre Leistungen. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, sondern ihr Glaube an die Fähigkeiten oder ihre Überzeugung darüber, was sie können, bestimmt das Ergebnis.

Nehmen wir zwei Kinder, die zu Hause die Mathematik-Aufgaben lösen können. Das eine Kind versagt dann aber bei der Schularbeit, das andere nicht. Hat es das eine nicht gekonnt? Doch, aber es kann ganz offensichtlich die Leistung nicht zeigen, weil sein Glaube an die eigenen Fähigkeiten geringer ist als beim anderen Kind.

derStandard.at: Woran liegt es, ob ein Kind an sich glaubt oder nicht? Wie kann man das beeinflussen?

Schmitz: Es geht um die Überzeugung im Kopf. Man kann diese Überzeugung auch in Worte fassen und sich sagen: Ich bin mir sicher, dass ich die Mathe-Aufgabe auch dann lösen kann, wenn ich Stress ausgesetzt bin. Das ist etwas sehr Konkretes, woran Kinder arbeiten können. Selbstwirksamkeit ist gut erforscht, deshalb ist das so viel konkreter, als wenn mir jemand sagt: Werde selbstbewusster.

Lehrer und Eltern können dem Kind Vertrauen geben, dass es der Herausforderung gewachsen ist, und es dabei unterstützen, kleine und immer größere Erfolge zu erleben. Denn von seinen verschiedenen Erfahrungen von Erfolg oder Scheitern hängt es ab, wie sehr es dann an sich selber glauben kann. Der Satz "Was ich will, das schaffe ich auch" ist so eine Art Leitmotiv.

derStandard.at: "Was ich will, das schaffe ich auch" - ist es wirklich so einfach, sich das einzureden?

Schmitz: Schön wär's! Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Und mit Einreden ist nicht geholfen. Wenn ich mit der Selbstwirksamkeit arbeite, kann ich mir meine Überzeugungen aber bewusst machen. Vielleicht kommen Ängste hoch, unhinterfragte Vorstellungen und Annahmen, die vielleicht gar nicht stimmen. Man legt alles auf den Tisch und fängt dann an zu fragen, was los ist. Warum habe ich diese Ängste?

Im kleinen Rahmen kann man dann beginnen, sich wohl dosiert kleine Erfolgserlebnisse zu verschaffen - in Materien, wo man eigentlich Schwierigkeiten hat und glaubt zu versagen. Auf die Dauer kann man es so schaffen und dann tatsächlich sagen: "Was ich will, das kann ich auch."

derStandard.at: Welche Rolle kommt dabei den Lehrern zu?

Schmitz: Eine riesengroße. Ich war in der Lehrerausbildung tätig und habe mit den angehenden Pädagogen vor allem zur Selbstwirksamkeit gearbeitet. Eine der Fragen an die Studenten lautete: "Wie ist das, wenn du dem Kind eine Arbeit zurückgibst, und es hat eine sehr schlechte Note - wie gehst du vor?" Das hat ja eine große Wirkung, wie man das macht. Dann kam die Antwort: "Ähm, das hat eine Wirkung?"

Die Lehrer lernten nun zu überlegen, wie sie den Kindern die Rückmeldung auf möglichst förderliche Weise geben können. Bei schlechten Leistungen ist es bei uns im Bildungssystem ja üblich zu sagen: "Das ist falsch, so macht man es nicht." Besser wäre es aber, das Positive hervorzuheben und zu sagen: "Schau mal, der Rechenweg bis hierher war richtig. Jetzt brauchst du nur noch ..." - also den Fokus auf die sogenannte Ressourcenorientierung zu legen.

derStandard.at: Man muss also in der Lehrerausbildung ansetzen, damit ein Umdenken stattfindet?

Schmitz: Ja, denn die Lehrer haben es nie anders kennengelernt, und es bringt ihnen auch niemand bei. Es wäre extrem sinnvoll, allen Lehrern selbstwirksame Kommunikation beizubringen. Es würde unglaublich viel verändern.

derStandard.at: Wenn beide Eltern schlecht in Mathematik waren, geben sie das dem Kind oft mit, indem sie sagen: "In unserer Familie liegt das Talent nicht in Mathematik. Das macht nichts, wenn du hier schlechte Noten hast." Kennen Sie diese Beobachtung?

Schmitz: Das ist die selbst erfüllende Prophezeiung nach dem Motto: "Das konnte bei uns sowieso noch keiner, warum solltest du es können?" Wenn Eltern so etwas sagen, sollte ihnen bewusst sein, dass sie damit im Kindeskopf den Weg ebnen für ein "Ich schaffe das sowieso nicht" - ob das Kind nun gut oder schlecht ist, ob es die Fähigkeiten hätte oder nicht.

Das ist sehr schade, weil das Kind nicht herausfinden kann, ob es das Interesse dafür hätte. Sobald es mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert wird, wird unbewusst in seinem Kopf drinnen sein: "Das kannst du sowieso nicht. Bei uns kann das keiner."

derStandard.at: Der Zug ist dann abgefahren, und aus dem Kind wird wohl kein Mathematik-Professor mehr.

Schmitz: Wahrscheinlich. Das Verrückte ist ja, dass die uns meist nicht bewusste Selbstwirksamkeits-Erwartung ganz massiv unser Verhalten beeinflusst. Wenn ich zum Beispiel mit hundertprozentiger Sicherheit erwarte, ich verstehe das sowieso nicht, kann ich erst gar nicht richtig zuhören, denn meine Denkfähigkeit ist beeinträchtigt. Da kann man dann gar nichts mehr dagegen tun. Das Verhalten wird unterbewusst gesteuert, und ich schaue lieber aus dem Fenster, als dem Lehrer zuzuhören.

derStandard.at: Gehen Sie davon aus, dass jeder im Grunde dieselben Fähigkeiten besitzt?

Schmitz: Nein, die Fähigkeiten sind sicher unterschiedlich. Die Frage ist, ob ich jemals die Chance erhalte, das Ausmaß meiner Fähigkeiten wirklich lebendig werden zulassen. Dabei kann ich unterstützt werden.

Vor kurzem habe ich eine Klavierlehrerin beim Unterricht beobachtet. Normalerweise heißt es immer: "Schon sehr schön, wie du das machst, aber hier an dieser Stelle hättest du es anders machen sollen." Das ist die übliche Rückmeldung eines Lehrers, der neben dem Schüler sitzt. Was hat diese Klavierlehrerin gemacht? Sie sagte: "Ah ja, das hat Mozart wohl auch immer gemacht, dass er so wie du übergegriffen hat. Probier's doch auch mal so, bitte, das könnte noch mal einfacher sein, vor allem wenn du danach einen C-Akkord greifen willst."

Wie es das Kind gemacht hatte, wurde wertgeschätzt. Dann wurde geschaut, was können wir noch besser machen.

derStandard.at: Lehrer ziehen oft Rückschlüsse auf die Fähigkeiten von Kindern, wenn sie deren ältere Geschwister schon unterrichtet haben. Jüngere sind in vielen Fällen vorbelastet. Wie lässt sich das vermeiden?

Schmitz: Ja, auch das war oft Thema in der Lehrerbildung. Es ist so: Menschen versuchen immer, Energie zu sparen. Wenn sie etwas kennen, haken sie es ab, nehmen diese Information und machen sich weiter keine Gedanken. Als Lehrer muss man aber wissen, dass das eine typische Falle ist, in die man tappen kann. Gerade wenn Lehrer schon Geschwister unterrichtet haben, müssen sie darauf achten und sich selber dazu bringen, sehr offen zu sein. Nicht zu sagen: "Ja, klar, wie der Bruder."

derStandard.at: Wie kann man das Konzept der Selbstwirksamkeit im Erwachsenenleben anwenden?

Schmitz: Es hilft, sich einmal in Ruhe anzuschauen: In welchem Bereich meines Lebens bin ich selbstwirksam, in welchem nicht? Häufig kommt man dann auf Dinge, bei denen es doch schön wäre, wenn man das gut und ohne Ängste et cetera tun könnte. Manches könnte einem auch beruflich nützen, wenn man sich näher damit auseinandersetzt.

Ein Beispiel: Viele Leute müssen ab und zu Vorträge halten und hassen es wie die Pest. Mit Hilfe meines Wissens über Selbstwirksamkeit kann ich mein Verhalten näher analysieren. Warum bin ich aufgeregt? Was fürchte ich eigentlich genau? Und dann geht man es an. Ein hervorragender Tipp, den man geben kann: den Anfang eines Vortrags einfach in- und auswendig zu lernen, indem man sich vor den Spiegel stellt und es tut. Wenn man in der Nacht geweckt würde, müsste es aus einem heraussprudeln: "Guten Tag, meine Damen und Herren, ich freue mich ..."

Das ist zwar eine Kleinigkeit, aber sie hilft den Leuten schon unglaublich. Also: wissen, wo ich ansetzen kann, üben, mir kleine und immer größere Erfolgserlebnisse verschaffen und am Ende sagen: "Ich bin mir sicher, das kann ich!" - das kann ich mit der Selbstwirksamkeit erreichen. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 8.4.2013)