Michael Sandel vermisst eine harte moralische Debatte über Markt und Gesellschaft.

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Standard: Superreiche schaffen ihr Geld aus Ländern, die ihnen die Möglichkeit gaben, wohlhabend zu werden, in Steuerparadiese. Wie soll man richtig dagegen vorgehen?

Sandel: Zentraler Wesenszug von Staatsbürgerschaft ist der Beitrag zur gemeinsamen Sache. Alle, die große Vermögen erwerben, erwerben damit auch die Verpflichtung, sicherzustellen, dass diese Vermögen auch dem gemeinsamen Gut dienen. Steueroasen sind ein unfairer Ausweg aus dieser Pflicht.

Standard: Viele Wohlhabende argumentieren aber doch gerade moralisch gegen diese Pflicht. Sie wollen sich nicht ,enteignen' lassen.

Sandel: Libertäre Philosophien sehen Besteuerung in der Tat als Enteignung, ja Diebstahl an, weil der eigene Erfolg dazu berechtige, über die Früchte der eigenen Arbeit zu verfügen. Ein Einspruch dagegen ist die berechtigte Frage, ob Erfolg nur auf dem eigenen Talent basiert oder nicht eben doch auch auf dem, was die Gesellschaft zur Verfügung stellt, um dieses Talent erfolgreich sein zu lassen.

Standard: Menschlicher Eigennutz ist eine starke Triebfeder. Wie soll daraus Solidarität entstehen?

Sandel: Indem man die Menschen von ihr überzeugt. Teil eines guten Lebens ist die Teilhabe an der Selbstverwaltung von Gesellschaften. Dafür müssen bestimmte Tugenden kultiviert werden und die Bedingungen dafür, die jeden Menschen zu einer solchen Teilhabe befähigen. Die Kluft zwischen Reich und Arm ist nicht nur unfair für jene, die unten sind. Sie schmälert auch die Möglichkeit einer guten Lebensführung für jene, die oben sind.

Standard: Und wie genau überzeugen Sie jene Milliardäre davon, deren Geld in der Karibik liegt?

Sandel: So wie ich es in Vorlesungen und unter Freunden machen würde: durch Diskussion und Dialektik. Ich würde Fragen stellen. Ziele erforschen. Es geht nicht darum, zu predigen.

Standard: Seit der Finanzkrise gibt es tiefes Misstrauen in den Kapitalismus, ein besseres Wirtschaftssystem aber ist bisher niemanden eingefallen. Wie damit umgehen?

Sandel: Man muss die Märkte dort belassen, wo sie hingehören. Es gibt einen Unterschied zwischen Marktwirtschaften und Marktgesellschaften, die wir zunehmend geworden sind. Die Marktwirtschaft ist ein Werkzeug, um Dinge zu organisieren. Die Marktgesellschaft ist eine Lebensart, in der alles käuflich zu erwerben ist, wo Marktwerte zu dominieren beginnen, wo sie nicht hingehören - in persönlichen Beziehungen, Gesundheit, Bildung, Recht oder nationaler Sicherheit. Diese Sphären muss man auseinanderhalten.

Standard: Wann haben sich diese Grenzen verwischt?

Sandel: Das ist in den vergangenen 30 Jahren graduell geschehen. Das war eine Periode des Markttriumphalismus. Eine Phase des Glaubens, dass Marktmechanismen die besten Instrumente sind, um ein öffentliches Gut hervorzubringen. Wir haben das Ende des Kalten Krieges fehlinterpretiert, Hochmut ist eingezogen. Auch mit der Finanzkrise 2008 hat sich das nicht grundlegend geändert. Viele hofften auf eine neue moralische Debatte über die Funktion von Märkten. Aber die hat es nicht gegeben.

Standard: Warum gab es diese Debatte in kleinen Kreisen, aber nicht in einer breiten Öffentlichkeit?

Sandel: Hier muss man fragen, was die Anziehungskraft des Glaubens an Märkte ist. Es geht eben nicht nur um den schlichten Mechanismus, Güter zu verteilen. Es geht vielmehr auch darum, uns die kontroversiellen Debatten darüber zu ersparen, den Dingen wie Bildung oder Gesundheit einen Wert beizumessen. Erst wenn wir das tun, können wir die Sphären trennen, in denen Märkte agieren sollen und in denen sie nichts verloren haben. Weil wir das aber gerne vermeiden, um etwa anderen nicht unsere Werte zu oktroyieren, delegieren wir lieber alles an vorgeblich neutrale Märkte. Diese Vermeidungsstrategie ist verständlich, aber fehl am Platz, weil sie eine leere Politik produziert. Genau daraus entsteht die immense Frustration über politische Parteien und Demokratie an sich überall in der Welt. Eine Art heiliger Diskurs ist entstanden, der von technokratischen Einlassungen dominiert wird, die niemanden inspirieren und vor allem die großen Fragen nicht beantworten. Markttriumphalismus und eine leere Politik, das sind zwei Trends, die verbunden sind.